Eine Welle der Menschlichkeit

© UHUDLA

Auf der Flucht  Der Krieg in der Ukraine ist das Störende und in Folge der Dauer der russischen Invasion das Zerstörende in der europäischen Nachkriegsordnung nach dem 2. Weltkrieg schlechthin. In langfristigen Prozessen ausdifferenzierte Gewissheiten gelten von einem Tag auf den anderen nicht mehr.

Reportage von Ulrich Schönbauer

Die EU reagiert auf diesen externen Schock mit Sanktionen und einem ansehnlichen wirtschaftlichen und militärischen Hilfsprogramm.

Die österreichische schwarz-grüne Bundesregierung ändert radikal ihre Flüchtlingspolitik.

Für Ukraine Flüchtlinge steigert die Caritas ihr umfangreiches Hilfsprogramm

Die zivilrechtlichen NGOs im Lande füllen jene Nische, wo sie am besten helfen können. Die zentrale Anlaufstelle für Hilfesuchende und Helfende schlechthin ist die St. Barbara Kirche in der Postgasse im 1. Wiener Gemeindebezirk, die Pfarrkirche der Ukrainischen Unierten Kirchengemeinde. Dort herrscht, so vermelden es Berichte, ein ständiges Kommen und Gehen. Viele Helfer sortieren die Güter der übereinander gestapelten Säcke. Spenden für das Kriegsgebiet werden entgegengenommen. Über private Wege werden dann diese an die Grenze gebracht und von dort in der Ukraine verteilt.

Auf der Homepage in Cooperation mit der St. Barbara Kirche findet sich eine Liste dringend benötigter Sachspenden und an welchem Ort diese am besten zu deponieren sind. Und noch etwas findet sich in den sozialen Netzen, organisiert von der ukrainischen Kirche: eine WhatsApp-Gruppe, über die man zu Telegram-Gruppen geleitet wird und zu Grenzübergängen von der Ukraine in die EU.

Wir – meine Tochter Linda und ich – hatten uns entschieden, am ungarischen Grenzübergang Zahony unsere Hilfe zu leisten. Zahony ist 570 km von Wien entfernt, kann an einem Tag hin und zurück bewältigt werden. Wir hatten Freunde gebeten, uns Hilfsgüter mitzugeben, die wir dort deponieren wollten. Unsere zentrale Mission war aber eine andere: Flüchtlingen, die in Zahony mit dem Zug ankommen, sollte die Möglichkeit einer schnellen Weiterreise in unserem Auto geboten werden, entweder nach Wien oder zu anderen Destinationen, die auf unsere Strecke liegen. Dieses Angebot posteten wir in der einschlägigen Telegram-Gruppe, wobei es allerdings ein „kleines“ Sprachproblem gab. Die Kommunikation erfolgt so gut wie ausschließlich auf Russisch und Ukrainisch.

Das sind zwei Sprachen, die uns fremd waren. Einen Versuch sollte es aber immerhin wert sein – wir formulierten unser Angebot in Englisch. Tatsächlich finden wir Resonanz. Drei junge Frauen aus Kiew wollen nach Budapest, eine andere nach München. Wir einigen uns mit den ersteren auf die Abstimmung der weiteren Schritte, sobald wir am Zielort eingetroffen sind. Der vierten Interessentin müssen wir leider absagen.

Nach einer knapp sechsstündigen Fahrt erreichen wir unser Ziel, den Bahnhof von Zahony. Vor dem kleinen Provinzbahnhof gibt es fast keine freie Stellfläche. Die meisten Autos haben ungarische Kennzeichen, viele auch deutsche und einige österreichische. In unmittelbarer Nähe sind zwei große Zelte aufgebaut, eines als Labestation, das andere, um sich aufzuwärmen. Seltener hatte ich das Gefühl, als Fremder willkommener zu sein als hier. Woher wir kommen, werden wir gefragt, und ob wir hungrig sind und Kaffee wollen. Der konsumierte Löskaffee schmeckt wie der beste Caro zu Großmutters Zeiten.

Nach einer kurzen Pause geht’s ans Ausladen. Das nur wenige 100 Meter entfernet Kulturzentrum war zu einem Depot umfunktioniert worden, in dem sich in verschiedenen Räumen Nahrungsmittel, Toilettenartikel, Kleidung und andere Hilfsgüter türmen. Zig helfende Hände versuchen hier Ordnung und Überblick zu schaffen. Alles erfolgt in einer ruhigen und geschäftigen Art, die einen tief eintauchen lässt, in diese Welle von Menschlichkeit. Alle vereint ein Ziel: Wenn die Ankömmlinge schon die Heimat verlassen müssen, dann sollen sie sich wenigstens willkommen fühlen. Und wir sind Teil davon, das ist’s, was mich selbst freut und auch berührt.

Für die Menschen zählt, dass wir gekommen sind und den Geflüchteten helfen

Gewand, Gewand, Gewand. Als wir unsere textilen Mitbringsel anschleppen, gibt es eine kurze Irritation. Rundum lässt sich nämlich nicht gerade überschäumende Freude feststellen. Kaum jemand will sich aber anmerken lassen, dass Kleidung nicht gerade das ist, was hier besonders gebraucht wird. Aber was für all die Menschen wirklich zählt, ist, dass wir gekommen sind. Dass wir sie nicht im Stich lassen. Dass wir jetzt da sind und versuchen zu helfen, so gut es geht.

Zurück am Bahnhof geht’s an die Organisation unserer Fahrgäste. In der Bahnhofshalle stehen und sitzen viele Flüchtlinge, Frauen mit Kindern, Ältere, viele verweinte Augen. Dazwischen die ungarischen Helfer und Helferinnen.

Die „Arrival“-Tafel über dem Zugang zum Perron listet gerade einmal vier Züge auf, mit Ankunftszeiten, die schon längst „Geschichte“ sind. In der obersten Zeile, also den Angaben für den nächsten Zug, wird eine Verspätung von 180 ausgewiesen. Drei Stunden sollte es demnach dauern bis der nächste Zug aus Tschop, der neun Kilometer entfernten Grenzstadt auf der anderen Seite, hier ankommen würde.

Wir kontaktieren per Telegram „unsere Fahrgäste“. Ja, sie sind bereits in Tschop, fürchten aber, dass es noch Stunden dauert, bis sie endlich über der Grenze sind. Sie haben aber nichts dagegen, wenn wir ihren Platz anderen anbieten, sie werden sich schon irgendwie durchschlagen. Jetzt ist es notwendig, denen zu helfen, die es brauchen und das Angebot gerade nutzen können. 

So machen wir uns auf die Suche nach neuen Fahrgästen. Nicht viele der HelferInnen sprechen Englisch. Ein älterer Herr bietet sich als Dolmetscher an. Auch ihm ist die Freude anzusehen, dass wir Zahony nicht allein lassen. Er will nach jenem Paar aus Kiew Ausschau halten, das vor geraumer Zeit nach einer Mitfahrgelegenheit nach Budapest gefragt hatte. Keine fünf Minuten später ist er wieder da, umgeben von zwei völlig verunsicherten und dankbaren älteren Menschen. Beide mit einem kleinem Handgepäck. Sie wollen nach Budapest, wir nehmen sie gerne mit. Leider sprechen sie nur Russisch. In solchen Situationen lastet des doppelt schwer, wenn man sich nicht unterhalten kann. Was würden wir gerne von ihnen wissen? Was würden wir ihnen gerne sagen?

Herzlicher Abschied, ein Handschlag und flüchtiges auf die Schulter klopfen…

Unser freundlicher Dolmetscher verabschiedet sich wie erwähnt, das all das ausdrückt, was uns die letzten zehn Minuten verbunden hatte. Wir bringen unsere Fahrgäste zum Auto, laden das Gepäck ein und machen uns auf den Weg. Wir zwei vorne, die beiden hinten. Wir vorne unterhalten uns leise, und die beiden hinten auch. Mittlerweile ist es dunkel geworden und mit jedem Kilometer verstummen unsere Gäste immer mehr. Stunde um Stunde nähern wir uns Budapest. Nach etwa drei Stunden wird es wieder heller, die Straßenbeleuchtung macht unsere Passagiere munter, wir nähern uns der Stadt. Beim Bahnhof lassen wir sie aussteigen. Sie wollen eine Dankbarkeit ausdrücken, die sie nicht in Worte fassen können. Und wir haben das Gefühl, dass wir zwar ein bisschen geholfen haben, aber bei weitem nicht genug. Dafür ging alles viel zu leicht. Bis jetzt!

Nach einem kurzen Kaffee im Bahnhof wartet die letzte Etappe auf uns: Budapest – Wien.  Das GPS zeigt einen kleinen Stau bei der Grenze. So what! Tatsächlich reihen wir uns nach knapp zweistündiger Fahrt in eine zweispurige Autokolonne. Es vergehen Minuten um Minuten, eine viertel Stunde, eine halbe Stunde, da verengen sich die beiden Spuren zu einer einzigen, nach einer dreiviertel Stunde haben wir es geschafft: die österreichische Grenze. Links zwei pubertierende Bundesheer-Assistenzler, die kontrollieren. Pass? 2 G? 3 G? Man weiß es nicht. Rechts zwei Polizisten auf der Pirsch nach potenziellen Flüchtlingen. Jeder Kombi, jeder Lieferwagen muss diesen Organen seine Unschuld beweisen.

Österreich, du hast uns wieder!

Ulrich Schönbauer Psychologie, Philosophie und Politikwissenschaft. Er war als Sozialforscher und BetriebsrätInnenberater am Institut für Gesellschaftspolitik bzw. der Arbeiterkammer Wien tätig.

Kommentar verfassen