Der „Uhudla“ hat ein anderes Konzept als andere Straßenzeitungen; eine neue Ausgabe erscheint nicht nach Termin-Vorgaben, sondern erst, wenn eine Nummer ausverkauft ist, ein Vorteil?
Lohmeyer: Das Printmedium „Uhudla“ ist nicht nur die älteste, sondern auch die „originellste” Straßenzeitung Österreichs. Unser Konzept ist es, einerseits sowohl unseren Leserinnen und Lesern eine qualitativ gute Zeitung zu bieten als auch den Verkäufern und Verkäuferinnen die Möglichkeit zu geben, sich über das Projekt „Uhudla“ soweit zu erholen, um dem Leben noch zu entreißen, was bis dato, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich war. Allerdings unterscheiden wir uns auch dadurch, daß wir weder abhängig (finanziell) noch beeinflussbar sein wollen. Schon vor einigen Jahren hat sich deshalb der Herausgeber Martin „Max” Wächter entschieden, auf Qualität statt Quantität – im Einklang mit den finanziellen Möglichkeiten – zu setzen: „Wir erscheinen nur viermal im Jahr.“ Gerade in einer Zeit, in der vermeintlich bedürftige Zeitungsverkäufer von den „echten“ nicht mehr so wirklich zu unterscheiden sind und in der die gesamte Gesellschaft durch künstlich geschaffene Krisen und weit aufgespannte Bankenschutzschirme so ziemlich in die Mangel genommen wird, war das eine goldrichtige Entscheidung. Übrigens bedeutet das griechische Wort Krisis „Umkehr zur Freude“.
Bitte ein paar Angaben zu den Verkäuferinnen und Verkäufern der Zeitung.
Lohmeyer: Beim „Uhudla“ kann jeder verkaufen, der verkaufen möchte; allerdings sollte beziehungsweise muss er / sie sich an gewisse Spielregeln halten. Nennen wir sie der Einfachheit halber die „Spielregeln des Lebens”. Also: Sei freundlich, nicht unterwürfig, sei ehrlich, nicht aufdringlich, sei einfach normal, und du wirst normal behandelt. Und: Laß‘ deine Probleme (Alkohol, Drogen etc.) links liegen, versuche nicht sie wissentlich zur Schau zu tragen. Nun zu meiner Wenigkeit: Ich war selbst über acht Jahre obdachlos. Sich auszureden auf eine Scheidung (zum Heiraten g’hören zwei, zum Scheiden bekanntlich auch) oder sonstige Schicksalsschläge, liegt mir nicht und würde auch die Realität nicht treffen. Ich war einfach überheblich und größenwahnsinnig, habe damals als leitender Angestellter einer großen Versicherung viel, sehr viel Geld verdient, etwa 40.000 Schilling monatlich, bin dann dem Alkohol verfallen – und fand mich auf der Straße wieder. Dort hatte ich zwei ständige Begleiter: a) Selbstmitleid und b) die Flasche.
Wie überlebt man ohne Geld und Dach über dem Kopf?
Lohmeyer: Als Obdachloser lebst du wirklich nur von heute auf morgen. Du hast keine Perspektiven mehr. Durch Zufall, über die „Gruft“, bin ich 1997 zum „Uhudla“ gekommen und hatte seit langem wieder Ziele, Aufgaben gesehen, Horizont erblickt. „Max“ und Margit Wächter, haben trotz meines damals noch Alkohol geschwängerten Daseins an mich geglaubt, mir auch so etwas wie „Heimat“ und Zuhause gegeben. Das hat mich bestärkt, aber auch verändert. Bei einem Spitalsaufenthalt wegen einer Lungenentzündung ist man draufgekommen, dass ich zuckerkrank bin, sicher eine Reaktion auf mein unstetes Leben. Da habe ich mich entschieden, mein Leben neu zu leben. Ohne Alkohol, ohne Straße, ohne sonstige G’schichten. Und ICH habe zu trinken aufgehört, das sage ich nicht ganz ohne Stolz. Und zwar ohne Entzug, ohne ärztliches Händchenhalten. Dadurch hab ich alles wieder klar und nüchtern gesehen, Dinge in Angriff genommen, die ich bis dahin vor mir hergeschoben habe, nämlich meine Schulden zu zahlen und mich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, mit Hilfe der Gemeinde Wien eine Wohnung zu bekommen. Wenig später hat man bei Martin „Max“ Wächter eine Lungenerkrankung diagnostiziert und für den „Uhudla” blieben zwei Optionen, entweder zusperren (ganz schlecht) oder aber jemanden finden, der ihn leitet (recht und schlecht). Dieser jemand bin seit zirka sechs Jahren ich, und ich bin es gerne. Heute lebe ich glücklich und froh im 12. Bezirk in einer „Gmoa“-Wohnung, knapp vierzig Quadratmeter groß. Und ich bin zufrieden, weil ich …
Sind Sie gebürtiger Wiener?
Lohmeyer: Ich bin in Klagenfurt geboren, Jahrgang 1956, und in Graz aufgewachsen. Seit 27 Jahren lebe ich in Wien. Achteinhalb Jahre davon war ich, wie gesagt, obdachlos.
Haben Sie vor Ihrer Zeit bei der Straßen Zeitung auch schon geschrieben?
Lohmeyer: Als Dreizehnjähriger war ich erstmals journalistisch tätig und verfasste für die Sportredaktion der „Kleinen Zeitung” drei Mini-Artikel. Mit siebzehn Jahren war ich als Journalist beziehungsweise Lokalredakteur bei der „Süd-Ost Tagespost“ und der „Sonntagspost“, musste mir aber damals die Beiträge für die Krankenkasse selbst zahlen. Dann kam ich in die Versicherungsbranche. also weit weg von publizistischen Dingen. Erst durch die Obdachlosigkeit und durch das Kennenlernen des „Uhudla” habe ich wieder mit dem Schreiben begonnen. Erst zaghaft, piano; jetzt in jeder Ausgabe. Ich bin Verfasser der kontinuierlich erscheinenden Rubrik „Mit offenen Augen“ sowie von Stories, die mir das Leben, die Gesellschaft, die Zeit, erzählen. Ich kann aber leider nur abends schreiben, da ich tagsüber ja umtriebigst in Wien und Umfeld „verkaufstechnisch” unterwegs bin.
Besitzen Sie die Artikel aus Ihrer Jugend noch?
Lohmeyer: Leider ist durch die damalige Delogierung auch mein „früheres Leben“ zwangsgeräumt worden. Ich war auch sowohl psychisch als auch physisch, glaube ich zumindest, nicht in der Lage, irgendetwas von diesen Dingen zu retten. Einerseits gut, denn „over is over.“ Materielle Verluste sind ersetzbar, und alles andere, die wirklich wichtigen und wahren Dinge des Lebens, trägt man im Kopf-so effizient kann kein Computer sein. Obwohl ich alle meine Stories und Geschichten direkt in den PC hämmere.
Was sind Ihre Themen?
Lohmeyer: Die Themen meiner Berichte, Storys, Geschichten sind recht unterschiedlich. Für die vorletzte Ausgabe (Nummer 96) habe ich zum Beispiel den Artikel „Am Anfang war der Uhudla“ verfasst, eine Geschichte der Straßenzeitungen. Von den Anfängen 1927 in Stuttgart bis hin zum Wiener „Augustin“, der „Kupfermuckn“ in Linz, dem „Apropos“ (früher „Asfalter“) in Salzburg, dem Innsbrucker „20er“, dem Grazer „Megaphon“ oder dem „Eibisch-Zuckerl“ in Wiener Neustadt – und natürlich dem „Uhudla“. Heute gibt es meines Wissens 112 Straßenzeitungen in vierzig Ländern. In jeder „Uhudla”-Ausgabe erscheint meine Kolumne „Mit offenen Augen“. Und ein frei erfundenes Horoskop zur Glückseligkeit- bisweilen darf ja auch gelogen werden. Eine Rebellion im Universum mit 15 Kreiszeichen, von Ameisenbär bis Single, von Austern (Plural) bis Tiger, von Bison bis Vogelspinne: ein bisserl gspaßig, denn so soll’s auch sein im Leben … life shall be joy.
Warum schreiben Sie unter dem Pseudonym Marc Aurel?
Lohmeyer: Marc Aurel deshalb, weil der Mann ein relativ friedlicher und auch blitzgescheiter römischer „Cäsarius” war. In der aktuellen Nummer zeichnete ich meine Kolumne mit meinem richtigen Namen; da geht es um den Bilderkünstler Mario Lang, einem „Multibegabten mit Qualitätsgarantie“. Übrigens verwende ich auch das Pseudonym Jean Marc Remole, ich hab ein bisserl eine frankophile Ader.
Haben Sie auch längere Texte verfasst?
Lohmeyer: An längeren Texten habe ich mich schon versucht, ja. Allerdings wurde mein „Qualtinger“ nie veröffentlicht. Auf die Idee zu diesem Text bin ich gekommen, weil der Archiv Verlag eine CD- Serie über den, wie ich denke, größten Kabarettisten, den Österreich jemals hatte, herausgebracht hat.
Darf man dennoch mit einer Buch Publikation von Walter Lohmeyer rechnen?
Lohmeyer: Für die Zukunft plane ich, Sie haben prophetische Ambitionen, ein Buch. Aber erst nach Beendigung meiner verkäuferischen Tätigkeiten. So nach dem Motto „Ein Kolporteur packt aus”. Keine Sorge, ich will mich nicht auf Krone-Niveau down graden. Einfach meine Erlebnisse, Highlights, Lustiges, Beschauliches, Tragisches, Trauriges etc. niederschreiben. Die wahren Abenteuer sind ja im Kopf (Copyright: André Heller), und die will ich eigentlich gerne zu Papier bringen. Kommt Zeit, kommt Rat.
Haben Sie journalistische, literarische oder sonstige Vorbilder?
Lohmeyer: Vorbilder, Vorbilder. Ich persönlich halte nicht viel davon. Es gibt Millionen von Menschen, die mir Vorbild sein könnten (in literarischer beziehungsweise journalistischer Hinsicht). Doch man läuft auch Gefahr, daß man die Kopie einer fähigen Literatin, eines fähigen Literaten wird. Jeder hat seinen eigenen Stil, seine eigenen Erlebnisse, seine Sicht, Dinge zu sehen. Was ist objektiv? Meines Erachtens nicht einmal die originalgetreueste Film-Doku. Die Fakten – ok. Doch die Betrachterin, der Betrachter dreht den Film, übersieht meinetwegen – nur zum Beispiel – das kleine Kaninchen, weil der monumental erscheinende Löwe so fasziniert. Daher für mich: Bewunderung ja, Vorbild nein. Klingt schon ein wenig überheblich, but for me, that’s it.
Was ist eigentlich aus der „ Edition Uhudla” geworden?
Lohmeyer: Die „Edition Uhudla“ wurde vor etwa sechs Jahren eingestellt, zugesperrt. Auch wegen Wachters unheilbarer Lungenkrankheit, die ihn zwingt, zwei Drittel des Jahres – der Luft wegen – in Portugal zu leben. Aber das Verlagswesen hat im Allgemeinen Einbrüche erlitten, und kleine „Micky Maus-Verlage“, wie wir einer waren, hätten wohl ohnehin keine Chance gehabt zu überleben. – „Und Schulden machen wir keine!“
(Copyright: Maxi Wachter).