
Willi Stelzhammer ■ „Weil ich genug habe von der allgemeinen Blödheit“, hieß mein erster Artikel, in der Zeitschrift „Nachrichten für Unzufriedene“ unserer autonomen Jugendorganisation SPARTAKUS, der 1971 auch im Neuem Forum von Dr. Nenning erschien.
53 Jahre nach 1968, viele Erfahrungen reicher, hat für mich dieser Titel, angesichts der kurz-sichtigen, politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen in Ösiland und der Welt, immer noch Gültigkeit.
Endlich tut sich was! Mein Mai 68 hat mich, 16jährigen, begeistert
Nach dem 1.Mai-Protest 1968 am Wiener Rathausplatz gegen die Entlassung der Elin-Arbeiter, der vom sozialdemokratischen Bürgermeister Bruno Marek gewaltsam aufgelöst wurde, suchte ich Kontakt zur Studentenbewegung, war dann mit Robert Schindel und anderen bei der Gründung der Föderation Neue Linke (FNL) dabei und später beim Arbeitskreis Proletariat.
Aus einer Widerstandsfamilie kommend, wollte ich raus aus der Enge, die Welt kennen lernen, verändern, verbessern, nicht so lahmärschig sein wie die bequem gewordene Generation vor mir, die sich mit einem System arrangierte, das die zwei Jahrzehnte früher verübten Menschheitsverbrechen tabuisierte und verschwieg, ehemalige SS-Verbrecher wieder in Machtpositionen hievte, wie den Arzt Heinrich Gross, oder Hochschulprofessor Borodajkewycz, und dessen Mief nur mühsam mit Nachkriegs-Wohlstands- und Konsum-Parfum übertüncht wurde. Wir gründeten die autonome Jugendbewegung Spartakus in Österreich, organisierten Aktionen gegen Lehrlingsschikanen und betriebliche Missstände, repressive Jugenderziehungsanstalten und Neonazikreise im Lütgendorf-Bundesheer. Unsere Kampagne „Öffnet die Heime“ trug zur Jugendstrafrechtsreform des Sozialdemokraten und Justizminister Christian Broda bei. Nach Repressionen gegen Spartakus bauten wir in verschiedenen europäischen Ländern selbstverwaltete Kooperativen auf, die es bis heute gibt. Bewegte Zeiten, damals.
1968 war, aus meiner Sicht, ein Bruch auf allen Ebenen der erstarrten, autoritär-patriarchalen Nachkriegsgesellschaft. Es folgte ein Aufbruch der Jungen, eine sexualpolitische und psychosoziale Befreiung, die erleichterten Bildungszugang, die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit und die Entstehung feministischer und ökologischer Bewegungen, und insgesamt ein Aufblühen der vielfältigen Zivilgesellschaft. Auch wenn viele, alte 68er heute selbst zum Establishment gehören, und manches daneben ging, ermöglichte die damalige Dynamik die Reformvorhaben der Kreisky-Ära in Österreich, von denen wir bis heute zehren, aber auch weltweit ein Aufkeimen alternativer Gesellschaftsvorstellungen, eine kulturelle Öffnung, ein, trotz aller Fehlkonstruktionen Europas, übernationales Feeling und die Vorstellung von der Machbarkeit eines friedlichen, demokratischen ökosozialen Europas, im Gegensatz zum „Europa der Konzerne“. Vieles blieb, freilich, bis heute bloß ein Wunschtraum.
Der Kampf gegen die reaktionäre neoliberale Wende geht weiter
Bis heute aber wirken diese 68er-Veränderungen nach, auch wenn seit den 80er-Jahren, trotz Warnungen des Club of Rome vor Erdölkrise, Deregulierung der Wirtschaft und heraufziehenden ökologischen und klimabedingten Katastrophen, vor allem nach dem weitgehend friedlich verlaufenden Endes der Sowjetunion und des sogenannten Ostblocks, der Kapitalismus, weitgehend widerstandslos, die globale Herrschaft, sowohl materiell, als auch ideologisch, politisch und medial übernahm, und einen Kurs einschlug, der wie wir wissen, für die Menschheit in Wellen von Krisen und einem Crash in der Sackgasse enden muss, sollte es nicht gelingen alternative, kooperative Lebens- und Wirtschaftsweisen auf nachhaltiger ökosozialer Grundlage als Gegenmodell zu entwickeln und gemeinsam dafür ein neues, für die Mehrheit verständliches Narrativ zu finden, wie wir ohne strukturell zerstörerischem und Ungleichheit generierendem Kapitalismus weltweit friedlich und demokratisch zusammenleben können.
Entwicklung einer realistischen Utopie. Ein qualitativ „neues 68“, in Form einer breit diskutierten, realisierbaren, gesamtgesellschaftlichen Utopie ist dringend nötig und möglich, und, wenn auch noch zersplittert und rudimentär, schon erkennbar. Nicht zuletzt in Jugendbewegungen wie „Friday for Future“ und der, zur Therapie der Kollateralschäden der Pandemie, aber vor allem zur langfristigen Heilung ihrer Ursachen, sich bereits ankündigenden verstärkten, weltweiten Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften mit freien Wissenschaftscommunities, vielleicht endlich erwachenden, kämpferischen Gewerkschaften, sozialdemokratischen, linken und ökologischen, visionsbegabten Kräften und selbstbewussten, gut vernetzten, aktiven und autonomer werdenden Menschen auf der ganzen Welt.
Willi Stelzhammer geboren 1952, Von 1973-86 in Kooperativen in Südfrankreich tätig, Gedichte, Theaterstücke, „Comedia Mundi“. 1986 wieder in Wien. Verein/Zeitung „Zusammen“, Kulturzentrum Simmering, heute „welTraum“. 1991-2001 Klubobmann Grüne Simmering. 1993 Mitinitiator Lichtermeer/SOS-Mitmensch, 2004 Mobile Pflege. 2008 Studium d. Psychotherapiewissenschaft. 2015 Magisterarbeit: „Der Iphigenie-Komplex“. Krise in Griechenland u. psychosoziale Folgen. Ab 2016 Gestalttherapeut.