Die Nackerten am Wienerberg

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© Karl Weidinger

FKK in the City ■ Eine postindustrielle Karriere ist möglich. Es gibt ein Leben nach Ausbeutung und Kapitalismus – in der Natur. Nach einer erfüllten Zeit als Lehmgrube für den Ziegelabbau kam nach dem Aus die Existenz als Mülldeponie. Seit etwa 30 Jahren ist der Wienerberg saniert und gilt als Oase der Nah- und Nackterholung. FKK inklusive, per Selbstermächtigung.

Von Karoly Gunczy-Tischler, erschienen in der UHUDLA Ausgabe 111 / 2019

Ein UHUDLA-Tipp für Naherholung in der österreichischen Donaumetropole. Schwimmspass mit Skyline im Vorstadt-Paradies.

Sommer in der Stadt. Erholung tut not – ebenso wie Abkühlung. Unweit der Spinnerin am Kreuz, einer ehemaligen Hinrichtungsstätte, liegt eine Urlaubs­idylle, leicht und schnell erreichbar.

Eine nicht erlaubte, aber geduldete Möglichkeit mitten in der Stadt textilfreien FKK-Urlaub zu machen

Der Wienerberg bringt mehr als 120 Hektar auf die Karte, davon sind 14 Hektar (140.000 qm) Wasser. Seit etwa 30 Jahren hält das Forstamt der MA 49 seinen grünen Daumen aufs Gelände. Ein Paradies zum Joggen, Walken und nackt herumstolzieren. Anderthalb Millionen frequentieren das Areal im Süden Wiens statistisch, macht durchschnittlich 4.000 am Tag.

Viele Wege führen zum Wienerberg. Es sind die vier Fahrspuren, der Triesterstraße. Die Tram 1, Stefan Fadingerplatz und der 67er Otto-Probst-Platz bimmeln zum Naherholungsgebiet, auch die Öffi-Busse 7A, 15A, 65A führen zum Paradies für Nackedeis. Die meisten kommen mit dem Fahrrad. Auch wenn es – typisch Wien – nicht erlaubt ist. Ebenso wie das Baden. Auch Grillen & Chillen verboten. Offenes Feuer detto. Kampieren auch. Schlafen und Wohnen im Reservat sowieso. Und Nacktbaden, eh klar.

Dazu überliefern Frühgeborene (Jahrgang 1939, kommt täglich mit Radl) und Spätberufene eine „Oral History“, die sich wie Frontberichte anhören. Die Polizei führte Razzia durch, Politik und Bezirk hätten urgiert. Verklemmte Uniformiertheit prallte auf barbusige Unverschämtheit. Wie im Film mit Louis de Funès aus 1966. Ausweise Mangelware. Die FKKler wurden verwarnt, abgemahnt und belehrt. Auf dass sie sich züchtig bekleiden. Um kein sittenwidriges öffentliches Ärgernis zu erregen und verbotsmäßige Folgehandlungen zu unterlassen. Als die Funkstreifen abgezogen waren, wurde sich wieder entblößt. Reine Lappalie, Formsache für Nudist­Innen. Doch nur ein kleiner Teil des Naherholungsgebiets ist durch Selbstermächtigung dazu vereinnahmt worden.

Aber bald wird die Station Wienerberg die südliche Endstation der neuen U2 und das dortige Erholungsgebiet vom Zentrum aus direkt erreichbar. Aber noch ist es nicht soweit, noch ist Zeit das Naherholungsgebiet unbeschwert zu genießen, fernab des Massenansturms wie auf der untergegangenen und runtergewirtschafteten Copa Kagrana nach dem U-Bahn-Anschluss. Bis 2027 wird die U2 wird bis zum Wienerberg verlängert. Die Region wird dadurch belebt und der neue Stadtteil „Biotope-City“ öffentlich besser erreichbar.

Fast 1.000 Wohnungen entstehen an der Triester Straße. Der Immobilienhai Soravia hat derzeit mehrere Projekte am Laufen. „The Brick“ wird ein Bürogebäude auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen heißen, wo auch die Wienerberger-Zentrale unterkommen wird. Das Unternehmen verdankt seinen Reichtum der Ausbeutung der Wanderarbeiter (Stichwort Ziegelbehm). Die „Biotope City“ umfasst mehr als 900 Wohneinheiten. Daneben entsteht ein leicht und schnell erreichbares Seminar- und Golf-Hotel mit 150 Zimmern.

Das Gebiet abseits der Triesterstraße und Neilreichgasse war schon vieles. Einem Aufstieg in der Hierarchie der Intensivbewirtschaftung steht nichts mehr im Wege, Saufbuden und Abfüllläden inklusive, siehe die nieder gewirtschaftete Copa Kagrana. Doch bis dahin ist noch Zeit. Zeit zum Genießen. Beschaulich, pomali, entschleunigt.

Nacktfrau
© Karl Weidinger

Sonnen- & Gottesanbeterinnen und die große Liebe der Österreicher zur praktizierten Freikörperkultur

Diese Erkenntnis entspringt einer Online-Umfrage in 24 Ländern. In Österreich zeigen sich vier von zehn Frauen gerne „oben ohne“. Fast jeder dritte Mann ließ es beim Sonnenbaden schon baumeln und gab sich völlig nackt der UV-Strahlung in freier Wildbahn hin – ein weltweiter Rekord. Nur Deutschland (72 Prozent) und Frankreich (65 Prozent) können bei dieser natürlichsten Form der Liebe zur Natur mithalten.

Nahtlos tief die Bräune. Unsportlich die Figur. Gepierste Mütter und tätowierte Großmütter beten die Sonne an. Väter und Großväter tragen Bauch und Che Guevara als genadelte Verzierung auf der Wampe. Alles in die Jahre gekommen, auch die gelebte Ersatzfamilie. Man schaut auf einander – im positiven Sinn. Spanner und Wichser werden gemeinsam verscheucht. Alles schon dagewesen: Porno-Shootings, Polizei- und Rettungseinsätze, Diebstähle, öffentlicher Geschlechtsverkehr. Aber auch Leichenfunde und (Selbst-)Tötungsdelikte.

Vor Jahrzehnten wurde das ehemalige Lehm-Abbaugebiet für die Ziegelerzeugung umgemodelt. Die Bilder sind im Kopf: Immer wenn ein Flugzeug den Luftraum oberhalb der Skyline am Horizont durchpfeilt, erwartet man, dass es in die Glastürme kracht. Aber passiert nicht. Den Blick beim Schwimmen gesenkt, sieht man wie die Schwalbengeschwader übers Wasser schwirren und einen Schnabel voll Wasser aufnehmen. Aber was tut sich an Land?

Psst, nicht weitersagen: Jakob der Rabe ist eine Krähe. Geliebt wird er von allen hier. Kann auch sein, dass es mehrere Exemplare sind. Zutraulich ist er (oder seine gefiederten Epigonen), bekommt immer was ab. Angefüttert und handzahm, wie die meisten hier.Der Biber kann auch eine Bisamratte sein. Im Frühjahr war er heuer besonders motiviert und hat eine Pappel gefällt. So geht Wildnis, so muss Natur.

Bereits zur Römerzeit wurden hier Lehmvorkommen genutzt. 1775 ließ Kaiserin Maria Theresia die erste Ziegelei errichten, die sich bis 1820 zur größten Europas auswuchs. Die Produktion ging ab 1870 mit einer heftigen Ausbeutung der Arbeitskräfte einher, nicht selten Kinderarbeit. Die aus den Kronländern Zugewanderten wurden „Ziegelbehm“ genannt. Die WanderarbeiterInnen dieser Migrationswelle wurden sesshaft und schafften den Aufstieg zu Facharbeiter­Innen.

Als um 1950 der Lehmabbau unrentabel wurde, versickerte hier das Ziegel-Gewerbe. Die Produktion schlief ein. Zurück blieb ein Brachland mit Tümpeln aus Lehmgruben. Das Areal wurde der Kommune umgehängt und verkam zur Müllhalde zwecks Schuttablagerung, später kam eine Motocross-Strecke dazu. Auch illegal.
Nach 20 Nachdenkjahren wurde ab 1970 ein „Masterplan“ angedacht und ein Ideenwettbewerb gestartet. 1995 erfolgte die Widmung zum geschützten Landschaftsteil und Naherholungsgebiet. Charakteristisch sind die Trockenrasenfluren im südöstlichen Teil des Geländes.

Ein Guru-Bergerl und Aids-Hügel, sagt der Stadtförster – und der muss es ja aus Erfahrung wissen

Oberste Kompetenz hat Uwe Skacel von der MA 49, dem Forstamt. Er ist seit mehr als 20 Jahren der Stadtförster am Wienerberg, und er kennt jeden Baum und Strauch. Seine Kindheit verbrachte er in der berüchtigten „Kreta“-Siedlung, einem Plattenbau in der Nähe. In einer Chronik schreibt er über die internen Namen der Areale. Nur das „Guru-Bergerl“ und der „Aidshügel“ stehen unter Regentschaft der FKKler. Wie es zu diesen Bezeichnungen kam, wird diskret verschwiegen, weisen aber möglicherweise auf Kiffer- und Schwulenszene hin. Er nennt sein Revier die „Republik Wienerberg“. Weil hier eigene Gesetze gelten. Ein subversiver öffentlicher Raum, geschaffen durch Selbstermächtigung und Aneignung. In Eigenregie – und ohne Konsumzwang.

Das Wegenetz umfasst 14 Kilometer und führt um die kleinen sowie den großen Teich. Der See ist jedoch offiziell nicht als Badegewässer gewidmet. Weil dann bräuchte man Verwaltung, Administration, Infrastruktur, Logistik – und Rettungseinrichtungen. Die Nackt-Gurus fürchten sich nicht, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Viel mehr treibt sie die Sorge um, dass der soeben frisch angesteckte „Ofen“ ausgeht und der Teich infolge des wuchernden Schilfgürtels zuwächst. Das kann nicht passieren, sagte der Förster, weil die Uferböschung unter Wasser steil abfällt. Die Wasserqualität ist am Ende der Badesaison schlechter. Der menschliche Faktor spiele keine Rolle.

Die 14 Hektar Gewässer mit einer Tiefe bis zu 30 Metern sind an den Arbeiterfischereiverein verpachtet. Ein Eldorado für Karpfen- und Raubfischfischer. Es gibt eine limitierte Lizenzzahl, wofür 170 Euro pro Jahr zu berappen sind. Dafür dürfen Karpfen, Hecht, Wels, Zander, Brachse Schleie, Barsch, Laube, Rotauge und Rotfeder aus dem See gezogen werden. Danach gibt es immer wieder skurrile Dialoge, wenn friedensbewegte Nackte die Fischer vom Töten des „Bruder Fisch“ abhalten wollen – aber das ist eine andere Geschichte.

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