
Jose Saramago zum 100er ■ Am 16. November 2022 begehen Literaturfreunde in Portugal den 100. Geburtstag ihres Literatur-Nobelpreisträgers José Saramago.
Viele Beiträge im Gedenken an den Schriftsteller sind in den vergangenen Tagen und Wochen erschienen, weitere werden folgen.
Von Henrietta Bilawer
Ich möchte den Autor Jose Saramago selbst sprechen lassen: Ich habe die folgende kleine Erzählung aus dem Jahr 2001 übersetzt; sie trägt den Titel “A maior flor do mundo” – “Die größte Blume der Welt”, geschrieben als eine Geschichte für Kinder. Doch ich glaube, sie ist auch für Erwachsene geeignet….
Saramago erklärt und erzählt es so: “A maior flor do mundo” – Die größte Blume der Welt
Geschichten für Kinder müssen in einfachen Worten geschrieben sein….. Ich gäbe einiges dafür, wenn ich solche Geschichten schreiben könnte….
Wenn ich diese Fähigkeiten besäße, könnte ich in allen Einzelheiten eine hübsche Geschichte erzählen, die ich mir irgendwann mal ausgedacht habe…. Es wäre die schönste Geschichte unter all jenen, die seit den Zeiten von Märchen und verzauberten Prinzessinnen geschrieben wurden….
Es gab einmal ein Dorf…. Und einen kleinen Jungen….
Der Junge verließ den Garten, lief von Baum zu Baum, wie ein Distelfink, er ging zum Fluss hinunter und dann am Ufer entlang…
Nach einer Weile erreichte er das Ende des Geländes, auf das er sich alleine wagte. Hier begann der “Planet Mars”. Von da an gab es für unseren Jungen nur noch eine Frage: “Gehe ich weiter oder nicht?” Und er ging.
Der Fluss machte eine große Biegung, entfernte sich, und der Junge war des Fluss schon fast überdrüssig, denn er kannte ihn ja schon seit seiner Geburt. Er beschloss, quer über die Felder zu laufen, zwischen ausgedehnten Olivenhainen, gesäumt von geheimnisvollen, mit weißen Schneeglöckchen bedeckten Hecken, dann wieder kam er an Wälder mit hohen Bäumen, wo es sanfte Lichtungen gab, ohne eine Spur von Mensch oder Tier, und rundherum eine summende Stille, und auch die Wärme von Pflanzen, der Duft von frischen Stängeln.
Oh wie glücklich der Junge war! Er ging und ging, und die Bäume lichteten sich, und jetzt lag eine flache Heidelandschaft mit dünnem, trockenem Gestrüpp vor dem Jungen, und in der Mitte ein abfallender Hügel, rund wie eine umgedrehte Schüssel.
Der Junge machte sich die Mühe, den Hang hinaufzugehen, und als er oben angekommen war, was sah er da? Weder Glück noch Tod, noch die Bretter des Schicksals… Da war einfach nur eine Blume.
Aber so zusammengesunken, so verdorrt. Der inzwischen sehr müde gewordene Junge ging näher. Und da dieser Junge etwas Besonderes in der Geschichte war, dachte er, er müsse die Blume retten. Aber wo findet man jetzt Wasser? Hier oben auf dem Hügel gab es keinen einzigen Tropfen. Und da unten, da gab es das Wasser des Flusses, aber wie weit weg der war!….
Das spielte keine Rolle.
Der Junge läuft den Hügel wieder hinunter, läuft erneut quer durch die Welt, kommt an den großen Fluss, schöpft so viel Wasser, wie seine Hände fassen können, durchquert die Welt ein weiteres Mal, schleppt sich den Hügel wieder hinauf, kam dort mit drei Tropfen Wasser an, die Blume trank sie durstig. Zwanzig Mal lief der Junge hin und her…
Und die Blume hatte sich aufgerichtet, verströmte ihren Duft, und als sei sie ein großer Baum warf sie Schatten auf den Boden. Der Junge schlief unter der Blume ein.
Die Stunden vergingen, und die Eltern begannen, wie in solchen Fällen üblich, sich sehr große Sorgen zu machen. Die ganze Familie und dazu noch die Nachbarn gingen hinaus, um den verlorenen Jungen zu suchen. Sie fanden ihn nicht. Sie liefen überall hin, schon in Tränen aufgelöst. Die Sonne ging schon beinahe unter, als sie ihre Augen hoben und in der Ferne eine riesige Blume sahen. Niemand erinnerte sich, diese Blume je gesehen zu haben.
Jetzt machten sich alle auf den Weg, stiegen auf den Hügel und fanden den Jungen schlafend vor. Über ihm, ihn vor der Kühle des Nachmittags schützend, wachte ein großes duftendes Blütenblatt… Dieses Kind wurde nach Hause gebracht, umgeben von großer Ehrfurcht, als ein Werk des Wunders.
Als der Junge später durch die Straßen ging, sagten die Leute, er habe das Dorf verlassen, um etwas zu tun, das viel größer war als er und das überhaupt alle Maßstäbe übertreffe.
ENDE
Das war die Geschichte, die ich erzählen wollte. Es tut mir so leid, dass ich nicht weiß, wie man Geschichten für Kinder schreibt. Aber jetzt wisst Ihr wenigstens, wie die Geschichte gewesen wäre, und jetzt könnt Ihr sie auf Eure Weise erzählen, mit einfacheren Worten als meine, und vielleicht werdet Ihr eines Tages wissen, wie man Geschichten für Kinder schreibt…
Wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages diese Geschichte noch einmal lesen, geschrieben von Dir, lieber Leser, aber dann sehr viel schöner?….”
(José Saramago, 2001)