
Erwin Riess ist tot ■ Mit 65 Jahren, am 25. März 2023. Ein unermesslich großes Loch klafft dort, wo Erwin vorgestern noch mit seinem Rollstuhl fest in der Welt stand und diese beständig daran erinnerte, dass man zu ihr in unterschiedliche Verhältnisse treten darf, bloß in eines nicht: mit ihr zufrieden zu sein.
Von Richard Schuberth
Der Schriftsteller, Dramatiker, Essayist, Politologe und Behindertenaktivist, Kremser und Wahlstammersdorfer, Liebhaber der Donau und der Schlepper und Schubverbände, die sie befuhren, war über vier Jahrzehnte eine entschiedene und unkorrumpierbare Stimme in der Linken.
Die Ununterscheidbarkeit seiner Stimme wird und soll bald schmerzlich zu spüren sein. Geschult an Hemingway, aber auch an der Literatur vergangener Jahrhunderte verband Riess knappe nüchterne Sprache mit der spielerischen Eleganz antiquierterer Stile.
In seinen Texten herrscht Humorverbot, doch sie strotzen vor Witz
Er war einer der wenigen Marxisten, die Grillparzer liebten, und einer der wenigen Intellektuellen, die ihn verstanden. Sein Theaterstück „Herr Grillparzer faßt sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer“ sollte unbedingt wieder aufgeführt werden.
Zurück zu Hemingway. Ich mochte Hemingway als Schriftsteller, nicht als Person. Er mochte ihn als beides, was einmal zu einem Streit zwischen uns führte. Erwin Riess war maskulin, ruppig und draufgängerisch wie Hemingway, aber er war auch der großherzige Gentleman, der Hemingway gerne gewesen wäre. Nach unserem Streit sagte er mir, nur wem etwas wichtig ist, der streitet darüber.
Mit ihm ist eine der letzten Persönlichkeiten und „organischen Intellektuellen“ im Sinne Gramscis (den er geschätzt und studiert hatte, bevor es Mode wurde) gegangen. Übrig bleiben als Dichter und Denker verkleidete Streber mit gut vermarktbaren schrägen Hobbys für die Homestory. Interessanterweise findet sich Persönlichkeit dann doch immer eher bei denen, die nicht darauf aus sind und deren Vergötzung ablehnen.
Da ich mich gerade wieder mit Lord Byron beschäftige, weiß ich, wie sehr dieser die politisch radikalen Köpfe und Abenteurer der 1790er-Jahre bewunderte und gerne wie sie gewesen wäre. Gut genug wusste er aber auch, was ihn von diesen trennte und ihm unerreichbar bleiben würde. Sie hatten nicht nach Persönlichkeit gesucht, sondern waren mit ihrer Sache im unmittelbaren Widerstand zusammengewachsen, Byron blieb die Sache nur etwas Äußeres, eine ideelle Botoxspritze, um sein stets nach Gratifikation gierendes, schlaffes Ich kurzfristig zu straffen. Daran hat sich wenig geändert.
Frühere Kulturschaffende hatten sich, nenne man es Opportunismus oder nüchterne Einsicht in die eigenen Möglichkeiten, heimlich eingeölt, um besser durch den Betrieb zu flutschen. Die von heute sind schon einige evolutive Stufen weiter, denn sie bestehen nur noch aus Öl. Und besprühen sich mit politischem Anspruch, doch der bleibt auf ihnen schwimmen wie ein dekorativer Fremdkörper. Denn Fettmoleküle können sich bekanntlich nicht mit dem Wasser mischen, weil sie weder positiv noch negativ geladene Seiten aufweisen, und die Sonne wird auch diese Tröpfchen verdunsten lassen, bis die Ölwesen sich was Neues draufsprühen.
Erwin Riess war durch und durch politisch. Das macht noch keine gute Kunst
Kunst, die ihre weltanschaulichen Absichten zu plakativ ausstellt, wird zurecht beargwöhnt, leider hauptsächlich von denen, die auch dahinter zurückfallen. Aber einer guten Analyse, die eine kunstvolle sprachliche Form findet, wird man den Respekt nicht verweigern. Und sie höher zu schätzen wissen als die Verkünstelung durch Marktgänger, welche nichts zu sagen haben, dies aber in diesem unverwechselbaren literarischen Sound – und es den Kulturgourmants dann als subtil, ambivalent und filigran aufschwatzen.
Die meisten suchen die Literatur als Ausdruck, um ihre Unschlüssigkeit zum verkäuflichen Pudding einer festen Form gerinnen zu lassen. Bei Erwin schien es umgekehrt, als suchte er in der Literatur seine theoretischen und weltanschaulichen Verfestigungen aufzuweichen.
Das konnte man schön bei seinen literarischen Kunstfiguren Groll und Tritt sehen, verewigt in unzähligen Kurzdramoletten, Essays und – ich glaube, acht – Kriminalromanen. Zu Beginn hatte sich der widerborstige Rollstuhfahrer Groll, Erwin Riess‘ proletarisches Alter ego, den kleinbürgerlichen Akademiker Tritt („der Dozent“) als Buhmann zurechtgelegt. Doch auch Tritt war Riess‘ Baby und rief bei seinem Schöpfer wohl Vatergefühle und die Einsicht in die eigene Ähnlichkeit mit auch diesem Balg hervor. Und so reifte der Herr Dozent von der Witzfigur zum liberalen Korrektiv von Grolls hochfahrender Selbstgewissheit. Ob Selbstironie oder nicht, das letzte Wort durfte dann doch der Mann im Rollstuhl behalten, und sei es nur in Form neckischer Gleichgültigkeit gegenüber dem Klügeln des Dozenten. Mit Groll und Tritt hatte Erwin jedenfalls dem philosophischen Dialog (im Sinne des 18. Jahrhunderts, da „philosophisch“ sich noch auf alle Fragen des Lebens bezog und nicht diesen ehrfurchtsgebietenden Nimbus hatte) neues Leben eingehaucht.
Mut zur Entschlossenheit in alter marxistischer Tradition und Bestimmtheit
Zum Riess’schen Habitus gehörten neben Sarkasmus und stets versöhnlich-heiterer Gentlemanship auch eine aus dem Rigorismus alter marxistischer Tradition geerbte Bestimmtheit. Er verkündete früher einmal den „Mut zur Entschlossenheit“. Dem musste ich natürlich den „Mut zur Unentschlossenheit“ entgegensetzen. Das gefiel ihm gar nicht. Stimmen tut beides. Letzterer ist in der politischen Tat vermutlich etwas hinderlich, ersterer im Denken schwer erträglich. Am unerträglichsten aber ist, wenn die Entschlossenheit plötzlich verschwindet, und die Unentschlossenheit übrigbleibt. Das ist gestern eingetreten.
Wir hatten einander Jahre nicht gesehen, unsere Mails waren höflich und interessiert, und der Wille, uns endlich mal beim Heurigen zu treffen, aufrichtig. Es ging sich dann doch nie aus. Dafür traf ich ständig jüngere Bekannte, deren Gesellschaft ich vorziehen musste, weil sie aufgrund ihrer zeitgeistigen Vorlieben und Identitätsprobleme früher alterten. Einen Riess Erwin, diesen Fels im Marchfeld, würde es schließlich immer geben.
Dein Sarg, lieber Erwin, gehört auf einem großen Schubverband die Donau nach Wien hochgefahren, damit zu beiden Seiten des Stroms die Menschen zusammenlaufen und sich fragen, wem hier die Ehre erwiesen wird.
Ich entbiete dir einen letzten Schiffergruß. Adio.