
Henrietta Bilawer ■ Zum Zeitpunkt des Attentats auf Rudi Dutschke war ich im 1. Schuljahr und daher viel zu jung für 68er-Erfahrungen.
Ich erinnere mich nur daran, wie ich in Köln beim Einkaufen mit meiner Mutter in eine Studentendemonstration mit massivem Polizeieinsatz geriet.
Als Willy Brandt 1972 die Wahlen gewann, wurde ich am Tag danach als Kind aus linkem Elternhaus von einer Mitschülerin geohrfeigt
Das habe ich nie vergessen. Etwa zur gleichen Zeit begannen 68er, meine Sozialisation zu prägen: Auf unserem neu gegründeten Gymnasium gab es viele Junglehrer, die die pädagogischen Ideale der Studentenbewegung aus ihrer Uni-Zeit in den Unterricht brachten – ein deutlicher Kontrast zu den älteren Lehrern. Wir paukten nicht bloß den Stoff der einzelnen Fächer, sondern lernten vor allem, das Gelernte einzuordnen, Kontexte zu erkennen, Ereignisse zu bewerten, nachzufragen.
Im Englischunterricht lasen wir Skakespeare, aber auch ‘Underground News’, diskutierten die Kehrseite des ‘American Dream’ und analysierten die Protestsongs der Bürgerrechtsbewegung. In Biologie befassten wir uns ausführlich mit Ökologie und Umweltverschmutzung – zwei Jahre vor Gründung der ‘Grünen’ in der Bundesrepublik Deutschland. Bei all dem wurden wir immer aufgefordert, eine eigene Meinung zu bilden und sie mit Argumenten zu verteidigen. Ich weiß von Gleichaltrigen, dass diese Schulerfahrungen in den 1970ern nicht selbstverständlich waren und bin meinen 68er-Lehrern dankbar, dass sie uns diesen Weg geebnet haben.
Auch mein Mann und ich sind Lehrer und fragen uns manchmal, wann, wo und wie dieses Lernen verloren gegangen ist, denn allzu oft scheinen gegenwärtig politische Bildung, gesellschaftliches Bewusstsein und Kritikfähigkeit zu fehlen.
Henrietta Bilawer, geboren 1961 in Köln BRD. Die Autorin und Journalistin lebt seit 1994 in Portugal.