
Gesangsfreu(n)de Augustin ■ Hard Chor von der Sorte „Punkrock 50/60/70plus“. Impressionen vom Abschied im Mariahilfer Gumpendorf, “Habts uns gern“.
Rückblick auf die “Schmankerln der Schöpfung” von Karl Weidinger (Text & Foto)
Mit wem sie nicht schon alles verglichen worden sind, die „Gewittrigen aus der Reinprechtsdorfer Straße“ in Wien Margareten. Als „Freibeuter der Chöre“, als „Chor-Monster“ oder gar „Sandler-Gesangsverein“ – die Schreibe ist von der „Werkskapelle“ der Straßenzeitung Augustin, die dort ihren Sitz hat.
Und noch mehr: Mit wem sie schon alles aufgetreten sind: Mit Hansi Lang, Fuzzman, Hirschfisch, Kollegium Kalksburg, Rewolfinger oder der ans Herz gewachsenen Show-Band von den „7 Sioux“ – und sich gegenseitig bei aller Freundschaft auf die Zehen. Aber immer friedlich, in dieser aus dem Ruder laufenden Dauerkrisenwelt. Mit „Halt dich an deiner Liebe fest“ hat sich das Gewitter nun verzogen. Zum Schluss wurde die Fangemeinde mit einem herzlichen „Habts uns gern!“ noch gesegnet.
Ein letzter Donner – echt Hard-Chor
Entstanden nach einem feuchtfröhlichen Besuch des Volksstimmefestes beim UHUDLA-Stand im Wiener Prater um die Jahrtausendwende. Eine Schnapsidee. „Wir begannen, schon brav im Öl, gemeinsam zu singen, von Karel Gotts Biene Maja bis zur Internationalen. Dabei gebar Riki, die privat in einem Gesangsverein war, die Idee, einen solchen mit Augustin Verkäufern zu gründen“, geht die Legende vom Anfang. Die Augustin Mitbegründerin Riki Parzer (die mit dem Singen ihre Sprachprobleme kurierte) und der Fotograf Mario Lang (auch immer fleißig beim UHUDLA dabei) heben das Gesangskunstwerk aus der Taufe. Im Vertriebsbüro ist dann schnell ein selbstgemachtes Plakat aufgehängt: „Gesangsfreudige VerkäuferInnen gesucht!“
So beginnt das Projekt anno 2000 und zieht schnell weitere Kreise. Jeden Donnerstag Nachmittag ist Probe, gleich in damaligen Salon UHUDLA. Als dieser kuriose „Gesangsverein“ ertönt, leben fast alle auf der Straße oder in Obdachlosenheimen. Zwei davon gehören der unter Augustin-Leuten hoch angesehenen Gattung der Insulaner an. Sie übernachten sommers wie winters auf der Donauinsel. Fünf, der dutzendköpfigen Stammpartie sind nicht mehr.
„Kaum jemand im Publikum ahnte, welche Ruinen ihre Körper waren, die sie – diszipliniert wie die Wiener Sängerknaben – von Gig zu Gig auf die Bühne schleppten. Sie starben vor der Zeit an den Folgen des Straßenlebens. WAS sie singen, klingt daher den meisten sehr vertraut. WIE sie es aber singen, kann der beste Schreiber nicht beschreiben“, beschrieb es Mastermind Robert Sommer 2004.
Riki und Mario sorgen sich mütterlich/väterlich um das erste Laufenlernen und das holprige Weiterlaufen des gesanglichen Kindes. Der Augustin hat eine Sendung auf Radio Orange und bittet um ein Weihnachtslied. Die erste offizielle Aufnahme: „Leise rieselt der Schnee“. Von da an gibt es Live-Auftritte zur Behübschung auf Augustin-Festen, zum Spaß, mit Verkleidungen. „Ich will keine Schokolade“ wird von Männern in Frauenkleidern gesungen, mit Orangen im BH. Der Sozialarbeiter vom Vertrieb meint dazu: „Ihr seid kein Gesangverein, ihr seid ein richtiges Gewitter!“ Schon hat das Projekt einen Namen. Die erste Platte 2003 wird mit „Stimmgewitter Augustin“ betitelt. Die Einnahmen kommen nicht den Stimmgewittrigen selbst oder dem Augustin zugute, sondern dem „Vinzidorf“, einer Obdachlosen-Siedlung am Grazer Stadtrand. Die SängerInnen, die von ganz unten kommen, wollen das so.
Chordirektor Mario & die Netten
Die „Gewittrigen aus der Reinprechtsdorferstraße“ in Wien-Margareten nennen sich 2008 ironisch „Schmankerl der Schöpfung“. Der nächste Tonträger „Übers Meer“ bringt Fernweh, Sehnsucht und nie gefundende Heimat mit. Dann beginnt die Serie „Songs about Liebe & Hass“. Wie immer mit musikalischen Kooperationen. Dabei treffen der Spirit des Punk und die Traurigkeit des Blues auf die Eleganz des Pariser Chansons, um mit der Abgründigkeit des traditionellen Wienerlieds angejazzt zu werden.
Die ganz großen Gefühle werden mit einem Augenzwinkern und dem gewohnten Hang zu sperriger Schönheit intoniert. Das führt zu „aberwitzigen emotionalen Höhenflügen mit unvermeidlich brutalen Bruchlandungen“, sagen die Rezensionen.
Schnell ist das Kind flügge, aber nie aus dem Haus. Das Stimmgewitter dröhnt mit Blitz und Donner im Lande (Innsbruck, Linz, Graz usw.). Bis eben zu jenem Donnerstag mitte März im TAG-Theater in der Gumpendorferstraße, angekündigt als „Stimmgewitter & Friends“. Am 16. März 2023 fällt der letzte Vorhang. Sicher werden sie nochmal irgendwie & -wo auftreten. Das geht gar nicht anders. Weil die Anzüge passen noch.
Eine Rückblende: Komm sing mit
Nach dem Motto: “Die Reste gibt’s zum Schluss“ herrscht wie immer Superstimmung bei Riki, Mario & den Netten. Maria, Hömal und und Ernstl. Dabei geht die eine oder andere Träne auf Reisen. Bewegt und bewegend, wie immer. Initiator und Chorleiter Mario Lang meint, dass es „noch Zeit ist in Würde aufzuhören, um erhobenen Hauptes abzutreten. Einmal gibt es noch einen großen Tusch. Mit vielen tollen Gästen, dort gehen wir dann in Würde auf die und von der Bühne ab!“
Diese Abschieds-Show zerfällt in zwei Teilen. Mario führt wie immer durchs Programm, das aus mehr als 20 Liedern besteht. Diesmal sind es nur mehr fünf Stimmen, die sich zum Gewitter zusammenbrauen. Der rekonvaleszente Klaus tritt temporär ans Mikrophon. Seine Kraft hätte für mehr gereicht, aber die Medizin ist dagegen. Überhaupt die „Medizin“. Während der drei Jahre Corona-Maßnahmen sind Auftritte und Chorproben verboten. Auch das hat das Verklingen des Gewitters eventuell beschleunigt.
Ursprünglich zwei Frauen und acht Männer im Clochard-Klangkörper, der sich auf sechs Plätze hinter den Mikrofonen eingedampft hat. „Anfangs nicht einfach, keiner hatte ein Handy, geschweige Internet. Einer schlief in einem Zelt auf der Donauinsel, einer unter der Floridsdorfer Brücke. Aber am Donnerstag um 16 Uhr war Probe – und alle waren da“, erinnert sich Mario an die Anfänge.
Sechsköpfige Hard-Chor tritt auf
Hömal, Heidi (später Maria), Hans, Riki, Ernstl und Mario gehen auf Tournee. Die Chance, in den Musikbetrieb hineinzuriechen, führt vom Wienerlied zum ersten mitteleuropäischen Senioren-Punk-Experiment. Diven und Rampensäue in Hard-Chor-Verkleidung. Stadienrocker auf Triumphzug. Linke LiteratInnencafes in Berlin am Prenzlauer Berg, tags darauf im idyllischen Städtchen Salzwedel und ein Gig in Leipzig. Vorher schon konzertiert man in Frei- und in Regensburg.
Dabei bedient man sich – und die anderen – am gängigen Liedgut. Georg Danzers „Geh in Oasch“ und das von Ton Steine Scherben bekannte „Halt dich an deiner Liebe fest“ werden Gassenhauer bei den Live-Auftritten. Für Ohrwürmer tun sie zu weh!
Dennoch bleiben die großen Abschiede nicht aus: Hans Kratky alias “Käptn Bumba”, wie man ihn zwischen Nordsee und dem Wulkabecken nennt, wird von einer heftigen Welle, die seinem Herzen zu mächtig ist, vom Bord des Stimmgewitter-Dampfers gespült.
Er bleibt nicht der Einzige. 2019 steht im Weinhaus Sittl am Wiener Gürtel ein Mikroständer verwaist herum. Das Stimmgewitter muss sich von Martin Österreicher verabschieden. „Baba, du wirst uns fehlen!“, seufzt der Mario sichtlich gerührt.
Doch das treue Publikum richtet die fünf verbliebenen Stimmen wieder auf. Und der traurige Abend wird so zu einem Fest für den Martin, posthum.
Es bleibt, was es immer war
Ein Hard Chor von der Sorte „Punkrock 50/60/70plus“, um der feindlichen Welt die Parole ins Gesicht zu schleudern: „Die letzte Schlacht gewinnen wir“. Fünf Gesangstars sterben bei der Ausübung ihrer musikalischen Leidenschaft. Auch die umtriebig sympathische Heidi ist nicht mehr. Aber unverzagt und erfreulich: Kratkys Witwe Maria steigt ein und macht weiter. Sie ist seit jeher mit dabei (auch entfernt), kennt den Gebrauch und die Lieder – nach 37 Jahren Ehe mit ihrem Käptn.
Kurz vor 23 Uhr fällt nun der (vorläufig) letzte Vorhang. Eierlikör auf der Bühne, Umarmen und Herzen. Aftershowparty im „El Speta“ gleich ums Eck. Alle sind willkommen, wie immer. Niederschwellig, aber in Auflösung. Mario und Maria grinsen in die Kamera: “Für den UHUDLA“, sagt oder fragt Mario. Es ist vollbracht.
Das finale Resumee stammt vom ältesten Punk Hömal mit 70plus: “Die Höhepunkte der Freude haben die Mühen der Ebene sichtbar überragt!” Dem ist nix hinzuzufügen. Wer noch Plattenspieler hat, soll sich die Platten kaufen. Downloads gibts auch. Stimmgewitter, wir haben Euch gern.