Zehn Gebote guter Kriminalpolitik ■ Der Verein Neustart als Teil des Netzwerks Kriminalpolitik, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern von Justiz, Anwaltschaft, Sozialarbeit, Opfervertretung und Wissenschaft, erwarten in der jetzigen Situation vernünftige Kriminalpolitik statt emotionaler Schnellschüsse.
Statement zu den geplanten Anti-Terror-Maßnahmen der Regierung
Vernunftgeleitete Kriminalpolitik muss auch in Zeiten wie diesen angemessen und mit Bedacht reagieren.
In ihrer Stellungnahme zu den geplanten Anti-Terror-Maßnahmen der Regierung verweisen die UnterzeichnerInnen noch einmal auf die Zehn Gebote guter Kriminalpolitik.
Das Netzwerk Kriminalpolitik besteht aus:
Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter
Vereinigung der österreichischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag
Weißer Ring
Verein NEUSTART
Institut für Rechts-und Kriminalsoziologie
Univ.Prof. Dr. Alois Birklbauer, Institut für Strafrechtswissenschaften,
JKU LinzUniv.Prof. Dr. Christian Grafl, Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien
RA Mag. Dr. Alexia Stuefer, Vizepräsidentin der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen
Wien, am 12. November 2020
Vernünftige Kriminalpolitik statt emotionaler Schnellschüsse
Strafbare Handlungen rufen dann Furcht und Unsicherheit hervor, wenn sie jede Person treffen können. Der Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 ist dafür ein Musterbeispiel. In solchen Situationen läuft die Politik Gefahr, auf der Suche nach Schuldigen Gesetze zu rasch und überschießend zu verschärfen und Grundrechte auszuhöhlen. Doch eine vernunftgeleitete Kriminalpolitik muss das Ziel verfolgen, auch in solchen Zeiten angemessen zu reagieren und zentrale Grundsätze für ein geordnetes menschliches Zusammen leben nicht über Bord zu werfen. Vor einer genauen Untersuchung der Ereignisse und Abläufe sollten keine Forderungen nach Rückbau bedingter Entlassungen oder die Einführung einer Sicherungs-bzw. Präventivhaft erhoben werden. Aktuell wird das Pferd von hinten aufgezäumt.
Tatsächlich ist eine rasche und umfassende Gefährdungseinschätzung durch die Polizei die Grundvoraussetzung effizienter Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung.Dafür müssen auch die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die vorschnelle Schuldzuweisung an die Justiz war unangebracht, zumal die Tat mit den bestehenden Mitteln und Instrumenten zu verhindern gewesen wäre. Infolge dessen besteht kein Grund für Schnellschüsse, das von der Regierung präsentierte Anti-Terror-Paket bedarf vielmehr einer eingehenden Diskussion. Vernünftige und ausgewogenen Regelungen brauchen Zeit zum Überlegen. Im Zusammenhang mit dem angesprochenen Terroranschlag sollten die Ergebnisse der Untersuchungskommission abgewartet werden.
Das Netzwerk Kriminalpolitik hat 2017 einen „unstrittigen Grundkonsens“ festgeschrieben, der über Parteigrenzen hinweg gelten soll
Die Zehn Gebote guter Kriminalpolitik wurden den damals und auch noch heute im Parlament vertretenen Parteien überreicht. Von allen Seiten wurde Zustimmung zu diesem Grundkonsens signalisiert. Damit dies nicht in Vergessenheit gerät, will das Netzwerk Kriminalpolitik angesichts der Ereignisse von Wien und den darauffolgenden politischen Reaktionen wesentliche Eckpunkte der Gebote in Erinnerung rufen.
Gute Kriminalpolitik versteht sich als rationale Kriminalpolitik (Gebot 1). Sie ist nicht emotional, sondern wissens- und faktenbasiert und vom Verständnis für soziale Zusammenhänge getragen. Die anlassbezogene Schaffung neuer Straftatbestände für terroristische Straftaten oder die Erhöhung von Strafdrohungen bei vorhandenen Delikten dürfen nur auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen.
Grund-und Menschenrechte bilden stets den Maßstab und die Grenzen des Strafrechts (Gebot 2).Sie dürfen nicht dem Wunsch, Kriminalität vorzubeugen und entgegen zutreten, geopfert werden. Die Einführung einer Sicherungshaft läuft Gefahr, Menschen die Freiheit zu nehmen, weil sie ohne Anlasstat als gefährlich eingestuft werden. Auch die im Anti-Terror-Paket der Bundesregierung angedachte vorbeugende Maßnahme gegen Gefährder mit der Möglichkeit einer lebenslangen Anhaltung (ohne entsprechende therapeutische Konzepte) stellt einen schweren Grundrechtseingriff dar. All diese Vorschläge übersehen, dass die Möglichkeit, eine Untersuchungshaft aus Gründen der Tatbegehungsgefahr zu verhängen, schon jetzt einen ausreichenden Rahmen bildet, um der akuten Gefährlichkeit von Tatverdächtigen entgegen zu wirken.
Die beste Kriminalpolitik liegt in einer guten Sozial-und Wirtschaftspolitik (Gebot 3). Kriminalpolitik darf nicht von Mängeln in anderen Politikfeldern, insbesondere in der Bildungs-, Sozial-und Wirtschafts-, Migrations-und Integrationspolitik ablenken. Sie kann deren Mängel und Versäumnisse nicht kompensieren. Dies gilt es auch bei Straftätern zu beachten, hinter deren Taten letztlich die Ablehnung von Werten steht, die für unsere Gesellschaftsordnung zentral sind. Wertebildung und -erziehung kann nicht durch Strafen und deren Vollzug geschehen. Sie ist durch eine Änderung in anderen Politikfeldern zu erreichen. Der im Anti-Terror-Paket der Bundesregierung vorgeschlagene Entzug der finanziellen Ressourcen für verurteilte Straftäterinnen und Straftäter ist ein Nährboden für deren weitere Radikalisierung und trägt nicht zur Sicherheit der Gesellschaft bei.
Angemessene strafrechtliche Reaktionen müssen besonderen Bedürfnissen, insbesondere auch von jungen Straffälligen Rechnung tragen (Gebot 6). Vor diesem Hintergrund muss auch jede Intervention grundsätzlich auf Re-Integration in die Gesellschaft ausgerichtet sein. Bei mangelnder Integration sind Strafvollzug und Nachbetreuung mit sozialarbeiterischen und sozialtherapeutischen Maßnahmen und Hilfestellungen zu verbinden, insbesondere bei einer vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis. Das Instrument der bedingten Entlassung gibt es seit mittlerweile 100 Jahren. Es ermöglicht eine längere Begleitung und Einwirkung auf den Rechtsbrecher, als es die noch zu vollziehende Reststrafe bewerkstelligen könnte.
Der Erfolg der bedingten Entlassung ist durch zahlreiche Studien empirisch belegt und darf daher für keine Tätergruppe ausgeschlossen sein.
In diesem Zusammenhang ist auch hervorzuheben, dass eine vernunftgeleitete Kriminalpolitik die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu respektieren und zu sichern hat (Gebot 5).Betreuung kann nicht die polizeiliche Überwachung gefährlicher potentieller Täter ersetzen. Hier bedarf es einer guten und strukturierten Zusammenarbeit aller mit diesem Personenkreis befassten Organisationen.Der rechtliche Rahmen für diese Zusammenarbeit berücksichtigt auch die notwendige Vertrauensbasis für die Betreuungsarbeit. Insofern sind die im Anti-Terror-Paket der Bundesregierung vorgesehenen Verbindungsstellen mit wechselseitigen Informationspflichten grundsätzlich zu begrüßen.
Opfer von Straftaten brauchen die Solidarität der Gesellschaft und müssen Unterstützung durch Opferhilfeeinrichtungen erhalten
Bei aller Zielrichtung vernünftiger Kriminalpolitik auf die Re-Integration des Rechtsbrechers in die Gesellschaft wendet sie sich auch den Opfern strafbarer Handlungen zu und respektiert sie als diejenigen Personen, die am intensivsten von Straftaten betroffen sind (Gebot 7). Die Verarbeitung der Folgen von Straftaten auf Opferseite und deren Entschädigung genießen einen hohen Stellenwert. Opfer von Straftaten brauchen die Solidarität der Gesellschaft und müssen unabhängig von einem Strafverfahren Unterstützung durch (staatlich finanzierte) Opferhilfeeinrichtungen erhalten. Dabei sollte entsprechend des Artikel 8 der Richtlinie der EU über Mindeststandards für die Opferrechte sichergestellt werden, dass die Opferunterstützungsdienste von den Sicherheitsbehörden raschest die Daten der Opfer erhalten, sofern diese einverstanden sind, um effiziente Hilfe zu garantieren. Darüber hinaus muss der Staat den Opfern schwerer Straftaten ihre zivilrechtlichen Ansprüche aus der Tat ersetzen, um dadurch seine Solidarität zu zeigen. Letztlich dient auch die Re-Integration des Straftäters in die Rechtsgemeinschaft den Interessen der Opfer, weil sie zur Vermeidung künftiger Opfer führt.
Ziel des polizeilichen Handelns ist es im Rahmen einer vernunftgeleiteten Kriminalpolitik, das Zusammenleben von Menschen, Bevölkerungsgruppen und Organisationen in Sicherheit und Freiheit im Rahmen des Rechtsstaates zu ermöglichen (Gebot 8).Daher muss die Polizei den gefährdeten und von Straftaten betroffenen Personen Schutz und Unterstützung bieten. Ihr Einschreiten muss soweit wie möglich von Deseskalations-und Konfliktlösungsorientierung bestimmt und von der Maßgabe der Verhältnismäßigkeit im Sinne von: „Soviel wie nötig, so wenig wie möglich“ getragen sein. Der Erfolg polizeilicher Arbeit hängt wesentlich auch von effizientem Management, guter Führungsarbeit und hoher Kooperationsfähigkeit mit den anderen im Felde tätigen Organisationen ab. Darüber hinaus ist die Prävention zentrale Aufgabe der polizeilichen Sicherheitspolitik. Hierbei sind die Möglichkeiten des Polizeilichen Staatsschutzgesetzes auszuschöpfen (§ 6: Erweiterte Gefahrenerforschung und Schutz vor verfassungsgefährdenden Angriffen mit den besonderen Möglichkeiten von Ermittlungen des § 11). Dazu ist es auch erforderlich, bei der Beobachtung von Gefährdern mit VertreterInnen der Justiz sowie den sozialen Betreuungseinrichtungen verstärkt zusammenzuarbeiten und wesentliche Informationen auszutauschen, wie es auch im Anti-Terror-Paket der Bundesregierung erfreulicherweise vorgesehen ist. Eine „Sicherungshaft“ bringt dagegen keine Effizienzsteigerung der Ermittlungsarbeit.
Die Praxis des Strafvollzugs ist ein Gradmesser für die menschenrechtliche Reife einer Gesellschaft (Gebot 10). Grund-und Menschenrechte sind für den Strafvollzug unabdingbar und ebenso bedeutsam wie die Ausrichtung auf Integration und Re-Sozialisierung. In diesem Sinne muss auch die Schnittstellenarbeit zwischen Strafvollzug, Justiz und Nachbetreuungseinrichtungen ausgebaut und intensiviert werden.
Schutz der Grundlagen des Rechtsstaates insbesondere auch dann, wenn dieser durch terroristische Anschläge erschüttert wird
Die Beachtung dieser Gebote bewahrt vor einer voreiligen Schuld-und Verantwortungszuweisung im Falle einer Straftat, welche die Grundfesten einer Demokratie berührt. Sie blickt in die Zukunft und wirkt präventiv, weil sie auch nach den Ursachen der Entstehung von Kriminalität fragt. Sie schützt die Grundlagen unseres Rechtsstaates insbesondere auch dann, wenn dieser durch terroristische Anschläge erschüttert werden soll. Sie gewährt den AkteurInnen in Justiz, Rechtsanwaltschaft und Polizei den nötigen Freiraum, im Rahmen der bestehenden Gesetze Verantwortung für Geschehenes zuzuschreiben und präventiv für die Zukunft zu wirken.
Versuche,die Grundfesten unserer Demokratie durch Aufsehen erregende und zu verurteilende Straftaten zu erschüttern, dürfen nicht dazu führen, als Reaktion darauf Grund-und Menschenrechte generell zurückzuschrauben. Vielmehr kann eine auch in solchen Situationen vernunftgeleitete Kriminalpolitik ohne emotionale Schnellschüsse unsere Demokratie und ihre Werte stärken.
Der Verein Neustart ist eine österreichweit tätige Organisation, die der Gesellschaft Hilfen und Lösungen zur Bewältigung von Konflikten und damit Schutz vor Kriminalität und deren Folgen bietet. Resozialisierungshilfe für Straffällige, Unterstützung von Opfern und Prävention: Das sind die Angebote, mit denen Kriminalität in der Gesellschaft verringert wird. Täterinnen und Täter sollen mit sozialarbeiterischer Unterstützung wieder in die Gesellschaft integriert werden. Opfer erhalten konkrete Hilfe durch Prozessbegleitung, Entschuldigung und Schadenswiedergutmachung.
Fazit der 60-jährigen Erfahrung des Verein Neustart: Wirkungsvolle Arbeit mit Täterinnen und Tätern ist der beste Opferschutz.