
António Lobo Antunes ■ Am 1. September 2022 wurde der portugiesische Schriftsteller 80 Jahre. Eine gebührende Würdigung des Werks eines Literatur Nobelpreis Anwärters. Antunes seziert literarisch die Historie eines Volkes mit kolonialer Macht- und Kriegserfahrung.
Von Henrietta Bilawer
Was Antunes berühmt gemacht hat, in seiner Heimat und weit darüber hinaus, war nicht sein Beruf, sondern seine Berufung, die allerdings durch seine Profession erwachte: Lobo Antunes ist Arzt und Psychiater.
Im Juni 1971, drei Jahre vor dem Ende des Kolonialkrieges Portugals in Angola, wurde Lobo Antunes als Militärarzt in das afrikanische Land geschickt. Was er dort durchlebte, prägt sein umfangreiches, vielschichtiges Werk bis heute
In den 27 Monaten seines Dienstes operierte er Kranke und Kriegsverwundete, amputierte zerschossene Arme und Beine, sezierte Leichen, entband Babys unter widrigsten Umständen, worüber er schrieb, er habe Stunden damit verbracht, “lebende Babys aus halbtoten Müttern herauszuziehen”, und dass er manchmal ans Tageslicht kam “mit einem kleinen, zitternden Leben in den Händen”, während Mangobäume über ihm raschelten und Mandrills friedlich der Szenerie zuzusehen schienen. In solchen Momenten kam Lobo Antunes nach eigenen Worten “dem, was man gemeinhin als Glück bezeichnet, am nächsten”. Irgendwann in jenen Jahren fand er einen anderen Weg, die Welt mit neuen Menschen, neuem Leben zu füllen: Existenzen, Charaktere, die aus Gedanken und Erinnerungen des Autors hervorgehen.
Die tägliche Arbeit hat den Autor nachhaltig beeinflusst. Seine künstlerischen von seinen klinischen Fähigkeiten zu trennen, ist kaum möglich. Als Medizinstudent hatte Lobo Antunes auch Unterricht im Leichenschauhaus; das wirkte sich auf seine schriftstellerischen Methoden aus: Sein Schreiben kommt häufig einer Vivisektion sehr nahe, er führt so etwas wie verbale Autopsien der Akteure und Situationen durch, über die er schreibt, sowohl persönlich als auch politisch.
Und die Vergangenheit lässt Lobo Antunes nicht los. Er sah und sieht sich auch verpflichtet, all der Leben zu gedenken, die nicht gerettet werden können. Nach dem Krieg zurück in Lissabon, arbeitete er in einem Krankenhaus, wo krebskranke Kinder behandelt wurden. Diese Erfahrung löste in ihm eine metaphysische Wut aus; er ertappte sich dabei, wie er gegen einen Gott wetterte, der solches Leiden zulässt. In einem Interview erzählte Lobo Antunes vom qualvollen Leukämie-Tod eines kleinen Jungen. Bei dessen Abtransport aus dem Krankenzimmer rutsche ein Fuß unter dem Leichentuch hervor und baumelte in der Luft. Lobo Antunes beschloss, “für diesen Fuß zu schreiben”. Vermutlich stockt jedem Leser bei diesen Worten der Atem. Das passiert (aus unterschiedlichen Gründen) häufiger, wenn man sich in António Lobo Antunes’ Werk vertieft.
Lobo Antunes veröffentlichte seine ersten beiden Romane im Jahr 1979. Seitdem sind gut drei Dutzend weitere hinzugekommen, die ihm eine Reihe von europäischen Preisen einbrachten
Immer wieder wurde der Autor als aussichtsreicher Anwärter auf den Nobelpreis für Literatur gehandelt, und er ist auch selbst nicht zu bescheiden, um sich als würdigen Preisträger einzustufen. Über den Nobelpreis grübelnd, sagte Lobo Antunes einmal: “Meine medizinische Karriere würde in dem Moment enden, in dem ich den Scheck einlöse.” Doch international steht er im Schatten von José Saramago, der die Auszeichnung 1998 erhielt, und dessen Geburtsdatum sich im November zum 100. Male jährt.
Saramago starb 2010, doch die tiefe Kluft zwischen Lesern beider Autoren besteht bis heute “wie bei rivalisierenden politischen Parteien oder Sportmannschaften”, resümiert der australische Literatur-Professor Peter Conrad, und findet, das “beengte Land Portugal” sei vielleicht nicht groß genug für beide Männer, die Conrad vergleicht: Saramago sei “ein gütiger Magier, dessen Fiktionen die Realität lächelnd außer Kraft setzen, Lobo Antunes eher ein Exorzist, der verzweifelt darum kämpft, das Böse auszutreiben und den politischen Körper zu heilen.”
Lobo Antunes bleibt seinen Themen beinahe zwanghaft treu, er sorgt sich um die ererbten Krankheiten der portugiesischen Geschichte und die Schwächen und Gebrechen seiner Kultur, er will ein nationales Gewissen sein, das seine “europäisierten, emotional geglätteten und dem Wohlstand ergebenen” Landsleute an ihre beschämende Vergangenheit erinnert, so Conrad, der Autor will an die Schuld, die die Diktatur von António de Oliveira Salazar, der das Land von 1932 bis 1968 regierte, und an die Nachwehen der Brutalität des Kolonial-Regimes erinnern, die Portugal in Afrika hinterlassen hat. Die Portugiesen, so diagnostiziert Lobo Antunes, hätten sich entschlossen, diese Ära zu vergessen, in der die katholische Kirche den faschistischen Staat unumwunden heiligte.
Romane zeigen dem Leser die Welt im Kopf eines anderen. Im Fall von Lobo Antunes ist diese Welt vor allem sein Land – klein und wenig bedeutend vielleicht, aber voller Schurken und Laster und übersät von schlecht versorgten, immer wieder aufbrechenden Wunden. Auch andere portugiesische Autoren thematisieren die Zeit des kolonialen Portugal, manche auch ihre eigenen Erfahrungen, doch Lobo Antunes gehörte zu den ersten, die das Tabu antasteten und dagegen anschrieben, zum Teil mit drastischer, ja, aggressiver Sprache.
Lobo Antunes verehrt den amerikanischen Romancier und Nobelpreisträger William Faulkner. Überschneidende Monologe, erwecken den Eindruck, dass sich die Gesellschaft einem Analytiker oder Beichtvater anvertraut
In seinem 1983 erschienenen Roman “Fado Alexandrino” nutzt Lobo Antunes diese polyphone Technik, um die gescheiterten Hoffnungen der jüngeren Geschichte Portugals zu untersuchen. Der “Fado” des Buchtitels ist die Musik der Hilflosigkeit und Resignation: Das Wort bezieht sich auf die melancholischen, mal leise, oft stimmgewaltig vorgetragenen Lieder aus den Fado-Lokalen von Lissabon.
Im Buch handelt es sich um vier Soldaten, die wie Lobo Antunes selbst desillusioniert aus einem Kolonialkrieg, diesmal in Mosambik, zurückgekehrt sind.
Sie werden zu Zeugen der Nelkenrevolution, doch der Jubel über das Ende der Diktatur währt nicht lange und Lobo Antunes und die von ihm geschaffenen Protagonisten sehen hilflos zu, wie ihr Land vom Idealismus in die Selbstverliebtheit abrutscht. Bei einem feuchtfröhlichen Treffen, das sie auf eine lange Reise durch Bars und Bordelle führt, geben sie sich dieser Entwicklung sogar selbst hin. Ihr nächtliches Gelage endet mit einem Todesfall: Einer von ihnen wird ermordet, und die anderen teilen sich die Schuld dafür. Der Roman kommt zu dem pessimistischen Schluss, dass es keine Möglichkeit gibt, eine Gesellschaft zu erlösen, die so sehr in ihrer Vergangenheit verhaftet ist.
Ähnlich argumentiert Lobo Antunes in „As Naus“, das unter dem Titel „Die Rückkehr der Karavellen“ auf Deutsch erschienen und sehr lesenswert ist. Als an die Realität gekettete Fiktion voller Zeitgeschichte ist das Buch auf ungewöhnliche Weise unterhaltsam und lehrreich zugleich. Der Autor lässt die namhaftesten Gestalten der portugiesischen Historie im Lissabon der Nach-Revolutionsjahre ankommen und stellt sie vor die Herausforderungen der Gegenwart. Tatsächlich tragen die Angereisten aus den gerade unabhängig gewordenen Kolonien rein zufällig dieselben Namen wie die mythischen Heroen der Landesgeschichte. Sie kommen nun in die Heimat, die manche von ihnen nie zuvor gesehen hatten, da sie als Kinder von Portugiesen in den Kolonien geboren wurden.
Oder sind die gerade Gestrandeten vielleicht doch die ewigen Helden selbst? Es bewegen sich ein gewisser Pedro Alves Cabral und ein Mann namens Vasco da Gama im Strom der Touristen durch die Altstadt und beäugen alles ebenso neugierig wie die Besucher, aber mit der Attitüde von Helden, die sich ihrer großen Taten bewusst sind. Nur interessiert das im quirligen Lissabon niemanden. Dort sind alle beschäftigt mit der Suche nach einer neuen Identität in dem post-revolutionären Land und auch für das Land selbst, in dessen Metropole Pferdekarren und Autos aneinander vorbei rasen und Tanker und schicke Yachten neben Karavellen vor Anker liegen.
Auch Sebastião ist wieder da, der König, den das portugiesische Volk seit seinem Verschwinden 1578 in der von ihm selbst angezettelten Schlacht von Alcácer-Quibir als Heilsbringer zurücksehnt
Mit ihnen tappen Francisco Xavier, Diego Cão, Garcia da Orta und andere Lichtgestalten aus Portugals Vergangenheit durch die Gegenwart. Dabei trifft der Mythos auf eine ganz andere Realität, die sich etwa in der drittklassigen Pension „Apóstolo das Indias“, in Nachtklubs und Kneipen zeigt. Die portugiesischen Helden, Überwesen der Weltgeschichte, werden angesichts der realen Verhältnisse zu alltagsuntauglichem Fußvolk, sie irrlichtern in Erinnerungen gefangen durch Lissabon, landen schließlich sogar im Krankenhaus, wo man sie auf ihren Geisteszustand untersucht. Kaum einer erlebt eine Erfolgsgeschichte. Integration entfällt.
Die Grundidee des Romans ist die Konfrontation von überhöhter, mystifizierter, verwelkter Glorie und dem herben Alltag eines Landes, das sich mit den Kolonien in Übersee übernommen hatte und diese Last noch viele Generationen lang trägt (und sich dennoch oder gerade deswegen zum Teil noch immer allzu häufig an die strahlende Vergangenheit klammert). Das Buch lebt auch von seiner Sprache voller poetischer Bilder. (António Lobo Antunes: Die Rückkehr der Karavellen. Verlag btb, München 2014. 288 Seiten. – Original: “As Naus”, editora: Dom Quixote, Lisboa 1988).
Zum 80.Geburtstag von António Lobo Antunes hat der Luchterhand Verlag jetzt die deutsche Übersetzung seines Romans “Die letzte Tür vor der Nacht” (A Última Porta Antes da Noite) aus dem Jahr 2018 herausgebracht. Es ist ein höchst ungewöhnlicher Krimi, inspiriert von einer wahren Begebenheit: Ein Geschäftsmann wurde ermordet und seine Leiche in Schwefelsäure aufgelöst. Jeder Beweis sollte beseitigt werden. Doch werden fünf Verdächtige angeklagt, die gebetsmühlenartig den Satz wiederholen: „Keine Leiche, kein Verbrechen.“ Lobo Antunes schält auf über 500 Seiten Schicht um Schicht von der Gegenwart ab und dringt bis in die Erinnerungen vor, die die Beschuldigten an ihre Kindheit haben. Dank dieser Tiefenbetrachtung gelingt es zu ergründen, warum und wie das Verbrechen geschah.
In seinem zuletzt verfassten Roman (2020) „Diccionario da Linguagem das Flores“, ist die Hauptfigur kein fiktiver Charakter: Júlio Fogaça, ein prominentes Mitglied der kommunistischen Partei PCP in den 1930er Jahren, gab es wirklich. In 24 Kapiteln wird der Leser dazu gebracht, sich selbst über die Identität des Protagonisten Gedanken zu machen, also nicht der Interpretation eines Autors zu folgen. Dabei steht im Mittelpunkt der Erzählung die Entdeckung eines alten Buches, aus dem der Titel des Romans entlehnt ist und das zu einem überraschenden grafischen Wechselspiel zwischen der modernen portugiesischen Sprache und dem Portugiesisch des späten 19. Jahrhunderts führt.
In Interviews hat Lobo Antunes nie Zweifel daran gelassen, dass er genügend Ideen für weitere Werke in Kopf und Herz trägt. Der Leser kann sich nur wünschen, dass der Stoff den Weg zwischen Buchdeckel schafft. Und vielleicht bekommt der Autor doch noch den Nobelpreis für Literatur. 2022 wäre eine Gelegenheit.
Das Bild links zeigt, wie der Zeichner und Cartoonist André Carrilho den Schriftsteller sieht; das Foto zeigt António Lobo Antunes bei einer Lesung in Oeiras.
António Lobo Antunes, Spross einer großbürgerlich aristokratischen Dynastie, wuchs im Lissabonner Stadtteil Benfica auf. Hohe Militärs und ein brasilianischer Kautschukgroßhändler finden sich unter seinen Vorfahren, aber auch eine deutsche Großmutter. Sein Vater war Arzt, und António, das älteste von sechs Geschwistern, studierte an der Fakultät für Medizin der Universität Lissabon. Bereits mit 13 Jahren wollte er Schriftsteller werden. Er spezialisierte sich auf Psychiatrie, in der er Ähnlichkeiten mit der Literatur zu finden glaubte. Nach dem Medizinstudium wurde er 1970 zum Militär eingezogen und war von 1971 bis 1973 während des Kolonialkrieges 27 Monate lang Militärarzt in Angola. Danach arbeitete er bis 1985 als Chefarzt und Psychiater in der Nervenklinik des Hospital Miguel Bombarda i n Lissabon. Unter der Salazar-Diktatur wurde Lobo Antunes Mitglied der Kommunistischen Partei und war deswegen auch im Gefängnis. Seit 1985 widmet er sich fast ausschließlich dem Schreiben.