
Ausführende Organe ■ Mjam, Lieferando und Gurkerl auf den Spuren von Amazon direkt vor der Haustür. Straßenschlacht: Kampf um die letzten Meter. Oft bleibt auch das Trinkgeld auf der Strecke.
Von Karl Weidinger erscheint im UHUDLA / 116
Dienen oder bedient sein. Dem Liefern ausgeliefert. Wenn die Radeln Essen bringen, tragen die „ausführenden“ Organe ihr knalliges Grün (oder Orange) zu Markte.
2008 tat der Essenszusteller Mjam seinen ersten Lieferschrei in Wien. Die bepackten Radler gehören in Zeiten von Lockdown und Ausgangsbeschränkung zum täglichen Stadtbild. Und der grüne Strampler bringt’s. Nun auch vom Supermarkt an die Tür. Vorzugsweise in den Bobo-Bezirken innerhalb des Gürtels. Nur das garantiert kurze Lieferzeiten.
Nach Wien und Graz wird in Salzburg, Innsbruck und Klagenfurt das bestellte Menü ausgeradelt
Über 2.000 Lokale haben sie schon am Haken. Und vor, während und nach der Krise Covid 19 werden es täglich mehr. Lieferando und Mjam kämpfen um die heiße Mahlzeit. Gurkerl, Alfies und Jokr räubern bei den Platzhirschen Billa, Mpreis und Interspar. Es geht um die Schnelligkeit der Lieferung und die regionale Ausbreitung auf dem Rücken der neuen Sklaven auf den fahrbaren Untersätzen wie E-Bike, Scooter, Roller, E-Moped.
Aktuell sind mehr als 300 Strampelfreunde gesucht. Viele Arbeitslose aus der Gastronomie werden hier anheuern (müssen). Jeden Monat kommen hundert Neue dazu. Die Warteschlangen sind lang und giftig. Viele alte Wirte verweigern den Liefer-Sklaven den Gang auf die Toilette. Damit das geschlossene Lokal im Lockdown nicht zur „sozialen Wärmestube“ verkommt und sich eine (verbotene) Geselligkeit einbürgert.
Das lässt sich nicht jeder und jede gefallen. Hohe Fluktuation ist Absicht. Alle ausbeuterischen Geschäftsmodelle pfeifen auf Firmentreue. Niemand soll zu lange dabei sein. Um sich organisieren zu können oder gar Bedingungen zu stellen.
Frisch für Bobos aufgetischt, ist die Geisterküche mehr als nur ein Gerücht
Gourmet a la Rad. Nix bleibt wie es war. Die Branche liegt nach den 3-G-Beschränkungen darnieder. Aus Überlebensreflex entstehen immer mehr „Geisterküchen“. Spezielle Rezepte um eine virtuelle Marke im Internet. Oder mit anderen Worten: Der hungrige Krake krallt sich seinen Wirten, wenn er ein Geschäft machen will. Das Phantom-Wirtshaus ist Realität.
Keine Konkurrenz, sondern nur ein Zusatz-Business. Aus alten Lokalen werden neue Geisterküchen für den Lieferdienst. Denn ob der Gassenverkauf und das Geschäft vor Ort je wieder in Mode kommen werden, bleibt ungewiss. So nützen die boomenden Lieferdienste die Gunst der Stunde in Zeiten von Corona.
Die Bezahlung erfolgt online oder bar bei Lieferung. Trinkgeld mehr als willkommen. Aber die Maut bleibt zusehends auf der Strecke. In Zeiten der Pandemie fließt – durchaus gewollt – immer weniger Bargeld. Digitales Zahlen senkt das Infektionsrisiko, weswegen immer weniger Cash den Besitzer wechselt. Das Essen wird abgebucht – ohne Schmattes. Der Markt brummt, das Radl surrt. Laut Wirtschaftskammer gibt es aktuell mehr als 43 Milliarden Euro in der heimischen. Fressbranche zu holen (Stand 2020).
Moderne Sklavenhaltung per Handy-App, und die Überwachung kontrolliert jede Fahrt
Gute Schichten sind begehrt. Außertourliche Bestellungen nicht anzunehmen, ist verpönt. Werden eintrudelnde Aufträge abgelehnt (weil zu weit weg), werden die nicht bereiten Bereitschaften auf Zwangspause geschickt.
Eine niederschwellige Niedriglohnbranche. Fürs Geschäft benötigt man nur einen fahrbaren Untersatz. Und schon werben sie mit dem Klimaschutz, weil die Meisten auf das Fortbewegungsmittel Rad setzen. Das ist doch supergrün. Bis zu 250 Kilometer pro Woche ergeben jährlich etwa 12.500 abgespulte Kilometer.
Mehr als 90 Prozent der knapp 3000 Boten fahren als freie Dienstnehmer. Ohne bezahlten Urlaub, Krankenstand und Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, versteht sich. Acht Euro pro Stunde soll der Verdienst sein. Wer spurt, verdient besser – eh klar. Bei mehr als zwei Aufträgen pro Stunde, gibt es vier Euro als Bonus.
Der Arbeitsdruck steigt, das Trinkgeld sinkt. Nur wenigen Kunden ist ein Mittagessen mehr als 10 Euro wert. Der Großteil will nicht für die Dienstleistung der Lieferung extra zahlen. Trotz großer Nachfrage bleibt es ein knappest kalkuliertes Geschäft. Zwischen allen Satteln in der Bobo-Szene.
Verdammte dieser Erde. Ein Markt, gespeist von Migranten ohne Arbeitsbewilligung
Das Lastenrad ist ein Auslaufmodell, wenn es hart auf hart geht. Gurkerl fährt seit Ende 2020 mehrspurig. Der Online-Liefer-Supermarkt gehört seit 2014 dem tschechischen Start-up Rohlik (auf Deutsch: “Kipferl”). Im letzten Jahr wurden insgesamt 300 Millionen Euro Umsatz erzielt, pro Monat 650.000 Lieferungen an 750.000 Kunden zugestellt. Im Juli 2021 eröffneten die Tschechen eine Finanzierungsrunde an der Börse und lukrierte dabei ein Potenzial von über einer Milliarde US-Dollar.
Kipferl oder Gurkerl beschäftigt derzeit 450 Mitarbeiter mit 28 Nationalitäten. Im Dezember 2020 ging es mit 200 Bestellungen pro Tag los. Ein halbes Jahr später waren es schon 1.500. Bis 2022 will man sich verdoppeln: 3.000 tägliche Orderungen müssen her, die in drei Stunden zugestellt sind.
Unter der Kategorie “Lebensmittel retten” werden Produkte stark vergünstigt angeboten, deren Uhr im Handel abgelaufen ist. 70 Autos fahren noch mit Erdgas, künftig sollen es E-Autos sein. Zudem wird die Flotte mit E-Bikes und E-Scootern verstärkt. Der Verdienst liegt bei bis zu 2.500 Euro netto, sagt der Chef. Ein guter Teil davon Trinkgelder durch Freundlichkeit. Nur fleissige Sklaven sind glücklich. Und Parkstrafen, wie hier am Gürtel, zahlt sicher der Chef. Wer’s glaubt, wird selig. Die anderen kommen sowieso in den Konsumhimmel.
Umsatz durch die Decke