
8. März Weltfrauentag ■ Ukrainische Frauen in Portugal
Von Henrietta Bilawer
Anfang März 2022 gab es vor dem Rathaus von Portimão, einer Hafenstadt an der Algarve im Süden Portugals, eine Solidaritäts-Kundgebung für die Ukraine. Vertreter vieler Nationalitäten hatten sich dort versammelt, vor allem Menschen, die vor vielen Jahren aus der Ukraine nach Portugal gekommen sind und sich hier eine Existenz aufgebaut haben.
#An dieser Demonstration waren mehrheitlich Frauen beteiligt. Ich erblickte dort Gesichter, die ich vom Sehen kannte, nicht durch persönlichen Kontakt. Ich sah eine Frau, die mir schon früher aufgefallen war, auf der Straße oder im Supermarkt. Ich habe sie, schätzungsweise Mitte 50, kurze, glatte Haare und immer in arbeitstauglich schlichter Kleidung, noch nie lächeln sehen. Ihre großen, dunklen Augen und ihre Mimik zeigten immer eine tiefe Traurigkeit, die so ausgeprägt war, dass sie auffiel.
Eine Frau steht bei der Demo in der Menge und ihr Blick ist ersichtlich traurig
Tränen rollen über ihr regungsloses Gesicht. Die Menschen singen ukrainische Lieder, auch diese Frau bewegt ab und zu die Lippen. Es wirkt mechanisch. Ob sie wirklich mitgesungen hat… es sah nicht danach aus. Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, an wen oder was sie gedacht hat, dort in der Menge. Ich weiß nichts weiter über diese Frau, die ich in den vergangenen Jahren an ihren Ohrringen als Emigrantin aus einem der Länder der ehemaligen Sowjetunion identifiziert habe. Die Frauen über fünfzig tragen oft diese Ohrringe aus Rotgold, es gibt zwei oder drei verschiedene Modelle; die kleine Raute ist das häufigste. Diese Ohrringe scheinen eine der letzten physischen Verbindungen zum Geburtsland ihrer Trägerin zu sein. Das Land ist untergegangen. Und nun, dreißig Jahre später, droht eines der Nachfolge-Länder unterzugehen.
Ich sehe auch eine andere Ukrainerin, die ich hier Lena nenne. Ich habe sie Anfang der Nullerjahre kennengelernt; in jenen Jahren habe ich als Dolmetscherin für die Gerichte und die Polizei gearbeitet, wo ich Lena zum ersten Mal begegnet bin. Sie war damals seit einigen Monaten hier, mit ihrem fünfjährigen Sohn, sonst hatte sie niemanden. Nun saß sie bei der PSP (Polizei), wegen Diebstahls: Ihr Sohn hatte im Supermarkt eine Packung Käse und noch ein paar andere Teile eingesteckt und der Filialleiter rief die Polizei. Seine Mutter saß danach auf der Wache und wurde befragt. Sie zitterte stark. Auf ihrem Gesicht konnte man ihre Gedanken ablesen: Erst Polizei, dann Gericht, dann Geldstrafe, die sie nicht würde zahlen können, also Gefängnis, der Junge ist alleine, würde ihr weggenommen werden, sie würde abgeschoben…. Das ist die Kurzfassung eines Schicksals, das damals viele Immigranten aus den Ländern der ehemaligen Ostblocks teilten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren sie auf dem Marsch quer durch Europa und über 100.000 sind in Portugal gestrandet. Hier war für sie das Ende der Welt.
Praktisch alle waren den Versprechungen von Schleppern gefolgt, die sie dann im Morgengrauen auf einem Parkplatz aussetzten und ihrem Schicksal überließen. Irgendeine (Hilfs-)Arbeit fanden fast alle; sie wohnten zu mehreren in einer Unterkunft, die die Bezeichnung ‘Wohnung’ nicht verdiente, doch viele sahen selbst nach monatelangem Arbeiten keine Bezahlung oder bestenfalls ein Taschengeld. Diese Menschen wurden von der Polizei aufgegriffen, ohne Arbeitsvisum, und sie mussten ausreisen. Manche, wie Lena, wurden beim Ladendiebstahl erwischt, dabei handelte es sich in allen Fällen um Lebensmittel.
Im Fall Lena konnte nicht geklärt werden, ob tatsächlich der Sohn die Sachen genommen hatte, oder ob die Mutter sie ihm zugesteckt hatte in der Hoffnung, bei einem Kind fiele es nicht auf. Lena schwieg dazu. Sie schämte sich abgrundtief, für beide Varianten. Der Richter stufte Lenas Fall als geringfügig ein, sie durfte gehen. Doch in diesen Stunden wird sie tausend Tode gestorben sein. Aber sie blieb in Portimão. In den folgenden Jahren kreuzten sich immer mal wieder unsere Wege in der Stadt. Lena sah dann schamhaft weg; es dauerte lange, bis sie sich auf einen Gruß im Vorbeigehen einließ. Inzwischen unterhalten wir uns, wenn wir uns begegnen. Ihr Sohn hat im vergangenen Jahr in Lissabon sein Mathematik-Studium abgeschlossen. Das hat seine Mutter ermöglicht, durch ihre Arbeit als Putzfrau, sechs Tage in der Woche, bei zwei, manchmal drei verschiedenen Reinigungsfirmen in Putzkolonnen und auch alleine, seit 20 Jahren, bis heute.
Das Leben hat Lena gezeichnet, sie ist blass und müde, hat Knieprobleme
Die aus der Ukraine stammende Frau iist zufrieden. Lena, das weiß ich inzwischen, war Witwe, als sie nach Portugal kam. Ihr Mann war Russe und kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Lenas Gehalt als Buchhalterin in einer Brotfabrik reichte gerade so zum Leben. Sie wollte eine bessere Zukunft für ihr Kind gestalten und wanderte aus. Lena ist stolz auf ihren Sohn, er wird seinen Weg machen. Seit einiger Zeit dachte sie darüber nach, mit den kleinen Ersparnissen eines Tages wieder in die Ukraine zurückzukehren. Dieser Traum wird jetzt gerade zerbombt. Hoffnung hat Lena nicht: „Das Schlimmste wird erst noch kommen“, sagt sie, und: „Die russischen Soldaten wüten wie die Taliban, sie töten Menschen und hinterlassen ganze Wohnviertel als Ruinen, sie bombardieren auch Mahnmale und setzen Museen in Brand. Alles Ukrainische soll ausgelöscht werden.“
Und dann wollte ich unbedingt Ira sehen. Eine Ukrainerin Anfang Vierzig, die ich seit Jahren sehr gut kenne – und das machte meinen Besuch bei ihr besonders schwer. Der Krieg dauerte schon fast eine Woche, aber Beklommenheit hemmte meinen Besuch bei Ira. Ich wusste ja nicht, wie es ihr geht, in welcher Lage sich ihre Familie in der Ukraine befindet. Was, wenn sie ganz schreckliche persönliche Nachrichten erhalten hätte? Wäre ich dann in der Lage, die richtigen Worte zu finden? Gibt es die überhaupt? Oder könnte ich etwas tun? Aber was? Oder wäre ich als Außenstehende lästig? Mein Gewissen plagte mich, denn ich merkte, wie leicht es mir fällt, Hilfe für unbekannte Menschen zu leisten und zu organisieren, aber wie sehr mich der direkte, persönliche Kontakt mit der Not verunsichert. Schließlich ging ich zu Ira.
Ira gehört zu den Immigranten, denen das Leben in Portugal Glück gebracht hat. Vor etwa 15 Jahren kam sie mit Mann und Baby hierher. Ira arbeitet im Tourismus, ihr Mann ist Handwerker, beide verdienen nicht schlecht, haben sich eine Wohnung gekauft und ein zweites Kind bekommen. Die Familie kommt aus einer Kleinstadt südwestlich von Kiew, wo Iras Eltern bis heute leben. Ihre Geschwister wohnen in Russland. Ich klingele. Ira öffnet die Tür. Das Handy am Ohr, winkt sie mich rein. Die jüngere Tochter, sieben Jahre alt, umarmt mich wie immer und lässt mich sehr lange nicht mehr los. Die ältere Tochter, inzwischen 16 Jahre alt und normalerweise sehr gesprächig, sagt kein einziges Wort und das blieb auch den ganzen Abend über so. Sie saß am Tisch, vor ihr Schulbücher und dahinter der Laptop, auf dem Monitor Videos und Nachrichten aus der Ukraine. Krieg auf dem Bildschirm, viertausend Kilometer weit weg und doch mitten im Leben der Familie.
Als Ira nicht mehr telefoniert, frage ich, wie’s ihr geht und fühle mich bedrückt
„Wie geht’s?“ – Wie kann es wohl jemand gehen, der Nachrichten aus dem Kriegsgebiet verfolgt, in dem Angehörige leben… Also sage ich, dass ich fassungslos bin und nicht begreife, wie so etwas möglich ist. Und Ira beginnt zu erzählen: Bis vor einigen Jahren habe das russische Staatsfernsehen vor allem aus Publikums-Berieselung mit Musiksendungen und seichten Filmen bestanden, doch seit zwei-drei Jahren habe es in wachsender Zahl Reportagen über die Nachbarländer gegeben, vor allem über die Ukraine. Ira hat den Wandel verfolgt, denn russisches TV empfängt sie via Satellit auch hier in Portugal. Anfangs seien die Reportagen neutral und auf Landschaftsbilder ausgerichtet gewesen, dann immer mehr auf Städte und Menschen. Die Darstellung habe sich tendenziell dahingehend verändert, dass die Ukrainer als arm, hilflos, ausgebeutet und unfähig zur Selbsthilfe dargestellt wurden, das Schulsystem funktioniere nicht, hieß es dann, die Infrastruktur sei überall komplett marode. „Das ging bis hin zum Grotesken, wenn zum Beispiel berichtet wurde, viele Wohnungen hätten nicht mal ein Klo“, sagt Ira. Natürlich gebe es Probleme in der Ukraine, es sei „längst nicht alles perfekt, es gibt zu viel Korruption, aber wir sind ja dabei gewesen, unser Land umzubauen.“
Ira erzählt mit tonloser, leiser Stimme. Ihr sonst so leichtes Gestikulieren als Begleitung ihrer Worte ist heute kurz und schwer. Ihr mentaler Zustand lässt sich wohl am besten als „jenseits aller Emotionen“ beschreiben. Nur manchmal kochen Gefühle hoch, etwa wenn sie berichtet, dass „neben der absurden TV-Darstellung unseres Alltags gleichzeitig das Märchen gestreut wurde, in der Ukraine würden Faschisten den Ton angeben.“ Ira ist ratlos, denn sie hatte gehofft, dass die Propaganda-Dauerschleife bei den Menschen in Russland keine Wirkung entfalten könne. Eigentlich hält sie es immer noch für unmöglich, so etwas zu glauben, denn „die sind doch nicht alle debil!“ Daher ist sie überzeugt, dass die meisten Menschen in Russland sich einfach nicht für ihre Nachbarländer interessiert haben. Weder im Guten noch im Schlechten.
„Und was ist daraus entstanden? Imperialistisches Denken? Oder die fixe Idee frustrierter spätsowjetischer Politiker, dass in den Staaten auch nach deren Unabhängigkeit weiter alles so laufen müsse, wie Moskau vorgibt?“ Ira meint, „die haben einfach nicht verstanden, wie wir uns entwickelt haben, wollten uns nicht sehen, obwohl wir Nachbarn sind.“ Und sie fragt: „Habt Ihr in Deutschland auch so wenig Einblick in das Leben zum Beispiel in Holland oder in Polen? Würdet Ihr merken, wenn man Euch jeden Tag den größten Quatsch vorsetzt?“ Dann antwortet sie selbst: „Eigentlich ist das egal. Putin wollte diesen Krieg. Das ist alles.“
Nun erzählt Ira von ihren Geschwistern in Moskau, die nicht nach Hause zu den Eltern in die Ukraine können und die auch nicht protestieren oder mit Kollegen und Bekannten über den Krieg reden können: „Die Bespitzelung und das Misstrauen der Menschen ist schlimmer, als es jemals in der Sowjetzeit war. Nach der Annexion der Krim 2014 hat das begonnen.“ Ich frage Ira nach ihren Eltern. Sie sagt, die beiden seien um die achtzig Jahre alt und besonders die Mutter habe gesundheitliche Probleme. Beide wollen nicht weg aus ihrem Zuhause. „Sie wollen sich nicht vertreiben lassen“, sagt Ira. Das Wort „Flucht“ gibt es nicht für Ira – und nach meiner Beobachtung auch nicht für andere, die aus dem Ukraine-Krieg kommen. Niemand flieht, denn niemand läuft weg. Sie alle werden ihres Zuhauses beraubt, vertrieben. Und sie wollen wieder zurück.
Der Krieg ist angekommen in den Vororten der Stadt, in der Iras Eltern leben
Die Kriegshandlungen sind noch nicht so grauenhaft präsent wie in Kiew, Mariupol oder Charkow. Aber was ist, wenn….. die folgenden Gedanken kann Ira nicht in Worte fassen, sie bleiben unaussprechlich. „Не дай бог…“, wiederholt sie immer wieder, „Nje daj bog“…. ‘das möge Gott verhüten’.“ Ira hält inne, sammelt sich und spricht dann von einer Freundin, deren Mann überlegt, Portugal wieder zu verlassen und in die Ukraine zurückzugehen, um dort zu kämpfen. „Nje daj bog“….
Wir schweigen. Iras jüngste Tochter hat inzwischen den Fernseher eingeschaltet – die kieksende Stimme eines Einhorns und die Farben von Glimmer und bunten Blumen dominieren für einige Augenblicke den Raum. Gemeinsames Schweigen ist manchmal heilsam. Dieses Mal nicht. Es gibt kein Heilmittel. Weder in der Politik, noch in den Familien. Nichts wirkt. Als ich zwei Stunden später gehe, sitzt die ältere Tochter noch immer vor Schulbüchern und Kriegsnachrichten und sagt kein Wort.
Wenige Tage später spreche ich mit Anja, die als Verkäuferin in einem Modegeschäft arbeitet. Sie kommt nicht aus der Ukraine, ihre Heimat ist Chișinău, die Hauptstadt der Republik Moldau. Sie ist bestürzt angesichts der Gegenwart, aber auch beim Blick in eine mögliche Zukunft: In ihrer Heimat Moldau gibt es nationalistisch geprägte Strömungen im Gebiet Transdnistrien, die fast auf den Tag genau vor 30 Jahren schon einmal zur militärischen Konfrontation führte. Bis heute fordern dort lebende Bürger, dass der Landstrich mit einer Grenze zur Ukraine am Fluss Dnjestr an Russland angegliedert werde. „Wir sind ein Land, an dem Putin demnächst Geschmack finden könnte“, meint Anja und denkt auch an Belarus: Die Demonstrationen gegen den offiziellen Ausgang der Präsidentschaftswahl im Herbst 2020 wurden mithilfe der russischen Regierung unterdrückt. Jetzt können die Bürger von Belarus „beobachten, was ihnen blüht, wenn sie weiter versuchen, Putins Kumpanen Lukaschenko loszuwerden“, sagt Anja.
Keine der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, ist alleine. Sie alle sind (selbst, wenn sie sich untereinander nicht kennen) Teile eines schicksalhaften Geflechts. Der bulgarische Politologe Ivan Krăstev sieht die Welt an einem Wendepunkt und meint, stark seien in Zukunft die Gesellschaften, die Schmerz ertragen können. Diese Frauen sind stark, äußerst stark. Aber können wir das so wollen?
FOTOS: Diese Fotos sind aus dem Kriegsgebiet Ukraine
– oben: Eine Frau auf dem Balkon ihrer zerbombten Wohnung (Fotograf unbekannt) und eine Frau, die bei einem Bombenangriff verletzt wurde (Foto: Alexander Lourie)
– unten: Selbstbildnis der ukrainischen Fotojournalistin Julia Kochetova, eine Friedensdemonstration (Foto: Chris McGrath) und eine Frau, die im Keller Schutz vor Bomben sucht (Foto: Lynsey Addario).
Henrietta Bilawer, geboren in Köln BRD. Die Autorin und Journalistin lebt seit 1994 in Portugal.