
Bedrohte Freiheit ■ Die „falsche“ Meinung wird verboten. Zensurgeschehen im Spiegel der Geschichte.
Von Hannes Hofbauer, Publizist und eine Hälfte des Promedia Verlages
Starke Geste. Am 14. Oktober 2022 trat der Oppositionspolitiker Burak Erbay ans Rednerpult des türkischen Parlaments und legte einen Hammer neben sein Handy. Nachdem er sich gegen die Verabschiedung des neuen „Gesetzes zur Bekämpfung von Desinformation“ ausgesprochen hatte, schlug er mit dem Hammer auf sein Mobiltelephon und schrie: „Ihr könnt Eure Handys wegschmeißen“.
Mit dem „Kampf gegen Desinformation“ ist weltweit ein neues Wording für „Zensur“ im Einsatz. Sie hat längst auch die Europäische Union erreicht. Und während man in der Türkei für die Verbreitung von „Desinformation“ – wer immer diese als solche definiert – relativ leicht ins Gefängnis gehen kann, werden in unseren Breiten missliebige Meinungen gelöscht, ihre Verbreiter politisch verfolgt oder ins Exil getrieben.
Zensur, so die Definition, ist eine Herrschaftstechnik zur Aufrechterhaltung beziehungsweise der Durchsetzung der eigenen Diskurshegemonie
Der Schauplatz der neuen Zensurregime ist das Internet. In meinem vor Kurzem erschienenen Buch „Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung“ beschäftige ich mich hauptsächlich mit dem deutschen Sprachraum, der in der Jetztzeit ohne die monopolartig agierenden Mediengiganten aus dem Silicon Valley freilich nicht behandelt werden kann. In puncto Meinungskontrolle hat Berlin in der Europäischen Union eine Vorreiterrolle eingenommen, Brüssel zieht regelmäßig nach und Österreich stolpert ein wenig hinterher, wenn es um die juristische Ausgestaltung von Zensurmaßnahmen geht. Meist kommt Zensur in Zeiten herrschaftlicher Schwäche zum Einsatz, die eben mit Verboten kompensiert wird. In den vergangenen Jahren haben sich politische Publikationsverbote hauptsächlich um zwei Themenkreise gedreht: die russische Erzählung auf die Welt bzw. insbesondere zum Zerfallsprozess in der Ukraine und die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19.
Begonnen hat es mit dem Buchdruck Die durch Verbote und andere Repressionsinstrumente immer enger werdenden Diskursräume des vergangenen Jahrzehnts habe ich zum Anlass genommen, mich mit Publikationsverboten in der Geschichte zu beschäftigen. Die europäische Zensurgeschichte begann mit der Erfindung des Buchdrucks. Und es war nicht zufällig der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Berthold von Henneberg, Landesvater des bedeutendsten Sohnes der Stadt, Johannes Gutenberg, der im Jahre 1486 die erste Zensurbehörde einrichtete – lange vor der mit Publikationsverboten um sich werfenden katholischen Kirche im Kampf gegen Luthers Thesen.
Der Erzbischof – und kurz darauf auch der Papst aus Rom – sahen durch die massenhafte Verbreitung von Schriften den bislang einzigen Verkündigungsort ihrer Wahrheit, die Kanzel, herausgefordert. Sie begegneten dieser Herausforderung mit umfassender Vorzensur. Alles Druckwerk bedurfte der kirchlichen Genehmigung. Wer ohne dieses Imprimatur publizierte, dem drohten Exkommunikation, Geldstrafen oder die Enthauptung. Letztere traf z.B. den Buchdrucker Johann Herrgott, der für die Verbreitung von Schriften des Sozialutopisten Thomas Müntzer im Jahre 1527 am Leipziger Hauptplatz hingerichtet wurde. Wer glaubt, die grausamste aller Zensurmaßnahmen, die Tötung des Andersschreibenden, sei heutzutage nur mehr in Saudi-Arabien denkbar, der sei an die Erschießung der palästinensischen Journalisten Schirin Abu Akle durch das israelische Militär im Mai 2022 erinnert. Dass auch in Deutschland zuletzt wieder die Tötung von Oppositionellen angedacht wird, geht aus einer Äußerung des Verfassungsschutzpräsidentenm Thomas Haldenwang hervor. Während einer öffentlichen Anhörung am 17. Oktober 2022 im Bundestag meinte er im Zusammenhang mit russischer Einflussnahme auf die deutsche Gesellschaft, dass „die Oppositionellen-Beobachtung sehr viel stärker stattfinden wird und das möglicherweise auch energisches Vorgehen gegen Oppositionelle bis hin zur Tötung vorstellbar erscheint.“
Der Bedeutungsverlust der Kirche und das Aufkommen des absolutistischen Staates änderte die Zrensur, sie wurde „verstaatlicht“
Die territoriale Zersplitterung der deutschen Lande in zig Fürstentümer bzw. Herrschaftsbereiche bot Möglichkeiten, den Zensurbestimmungen in einem Land auszuweichen und unter dem Dach einer anderen Herrschaft seine Meinung straffrei publizieren zu können. Die Tatsache, dass Publikationsverbote immer auch umgangen werden, ist im Übrigen eine Konstante der Zensurgeschichte. Besonders findig reagierte diesbezüglich beispielsweise der Wiener Buchhändler Georg Binz, der durch die vielen Anfragen nach indizierten, also kirchlich verbotenen Büchern auf die Idee kam, im Jahre 1777 den Index selbst als Druckwerk herauszubringen. Die Reaktion des römischen Nuntius: Er ließ das Drucken des Index verbieten.
Eine Zäsur im historischen Zensurgeschehen stellte die napoleonische Herrschaft in deutschen Landen dar. Napoleons Kodifizierungs- und Reglementierungswut fielen Zeitungen sonderzahl zum Opfer. Und die Hersteller bzw. Verbreiter von Druckwerken, die sich gegen die französische Besetzung richteten, wurden gnadenlos verfolgt. So auch der Nürnberger Buchhändler Johann Philipp Palm. Nachdem Napoleons Spitzel in seinem Laden die Kampfschrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung“ gefunden hatten, wurde er ins damals bayrische Braunau verschleppt und dort am 26. August 1806 hingerichtet. In Nürnberg hatten die Franzosen offensichtlich zu große Angst vor einem bürgerlichen Aufstand.
Vom bundesdeutschen Grundgesetz über den Artikel 9 der DDR-Verfassung zur Schweizerischen Bundesverfassung und zur österreichischen Verfassung garantierten alle vier deutschsprachigen Staaten nach 1945 ihren Bürgern die Meinungsfreiheit. Vor allem in der BRD und der DDR hielt dieses Versprechen nicht sehr lange. Im Arbeiterstaat existierte eine Vielzahl von Einrichtungen – wie die „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel“ –, die eine umfassende Kontrolle von Publikationen beinhalteten und unerwünschte Publikationen durch allerlei administrative Blockaden verunmöglichten. In der BRD durchlebten linke Verleger, AutorInnen und Drucker in den 1970er Jahren schwere Zeiten. Wellen von staatlichen Beschlagnahmungen in Verlagshäusern und Buchhandlungen zielten auf die Zerschlagung einer aufkommenden antikapitalistisch gesinnten Gegenmacht.
Das Buch „Wie alles anfing” wurde trotzdem verboten, alle Exemplare beschlagnahmt und der Verlag Trikont mit jahrelangen Prozessen eingedeckt
Als Beispiel sei hier die Autobiographie „Wie alles anfing“ von Bommi Baumann erwähnt. Der Berliner Kommunarde und Mitbegründer der linksextremen „Bewegung 2. Juni“, einer gewaltbereiten und gewalttätigen Gruppe, floh 1972 vor der Strafverfolgung nach Syrien und Afghanistan. In seiner Schrift wandte er sich mit dem Spruch „Genossen, werft die Knarre weg“ vom Terror als politischer Strategie ab. Das Buch über seine Absage an den Terrorismus wurde trotzdem verboten. Kurz darauf erschien ein spektakulärer Reprint von „Wie alles anfing” , zu dessen Herausgabe sich Peter Handke, Jean-Paul Sartre, Gerhard Zwerenz und Wolfgang Abendroth bekannten. So kann Zensur umgangen werden.
Um die Mitte der 2010er Jahre nahmen staatliche Eingriffe in die verfassungsmäßig garantierte Meinungsfreiheit wieder deutlich Fahrt auf. 2015 beschloss das deutsche Justizministerium, konkrete Maßnahmen „zur Bekämpfung von Hassinhalten“ im Netz zu ergreifen. Daraus entstand das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, das alle großen Anbieter – die sogenannten „sozialen“ Netzwerke – verpflichtete, Hass und Falschmeldungen auf ihren Plattformen zu löschen und – später – selbige an die Justiz zu melden. Wohin die Reise gegen „Hass“ und „Fake News“ politisch-inhaltlich ging, zeigte dann am 23. November 2016 das Europäische Parlament. In der mehrheitlich verabschiedeten Resolution steht zu lesen: „Propagandistischer Druck auf die EU vonseiten Russlands und islamischer Terroristen wächst ständig. Dieser Druck zielt darauf ab, die Wahrheit zu torpedieren, Angst zu verbreiten, Zweifel zu provozieren und die EU auseinanderzudividieren.“
Eine kurz zuvor gegründete und in allen EU-Staaten tätige Task Force („Strategisches Kommunikationsteam Ost“) überwacht seither das Publikationswesen im Internet insbesondere in Richtung russisch finanzierter Plattformen. Im Oktober 2018 erhöhte die EU mit der Verabschiedung des „Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation“ ihre Schlagzahl. Von Anfang dieser neuen Überwachungs- und Zensurwelle an ging es um die Diskurshoheit über das Geschehen in der Ukraine. Der dortige verfassungswidrige Umsturz vom Februar 2014 führte in der Folge zur territorialen Zerstückelung des Landes. Russische Medien boten in so gut wie allen Sprachen Europas die Gegenerzählung zu den uniform agierenden großen deutschen Medienhäusern sowie dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Deren Vertrauensverlust in der Leser- und Seherschaft hatte sich bereits seit Jahren vertieft. Mehr und mehr Menschen zweifelten daran, ob die NATO- und US-Kriege in Jugoslawien, Afghanistan, dem Irak, Libyen und anderswo um westliche Werte wie Demokratie geführt wurden, wie es die großen Medienhäuser ihrem Publikum weismachen wollten.
Viele Interessierte Nachrichten NutzerInnen wanderten ins Internet ab, wo sie auf eine professionell gestaltete russische Gegenerzählung stießen
Als dann der erfolgreichste russische Sender, RT.deutsch, damit begann, das sichtbare Chaos bei der Bekämpfung von Covid-19 zu thematisieren und Fachleute zu Wort kommen ließ, die die Sinnhaftigkeit der ergriffenen Maßnahmen in Zweifel zogen – was im medialen Main- Stream schlicht nicht möglich war –, explodierten die Zugriffe auf das russische Portal. Laut der westlich-liberalen Screening-Einrichtung „avaaz“ erreichte RT.deutsch im 1. Halbjahr 2021 auf Facebook mehr Interaktionen als Bild, Spiegel und Tagesschau zusammen. Mit 540 Millionen Zugriffen auf ihre Homepage war RT.deutsch zum Spitzenreiter der deutschen Medienlandschaft im Internet geworden.
Für Berlin und die transatlantische Gemeinschaft war Feuer am Dach. Am 21. September 2021 nahm YouTube RT.deutsch vom Netz, drei Monate später wurde auf Betreiben der Medienanstalt Berlin Brandenburg der russische TV- Sender trotz gültiger serbischer Sendelizenz auf Eutelsat abgeschaltet und am 2. Februar 2022 kam das offizielle Schreiben der deutschen Behörden an RT.deutsch: Sendeverbot. Das war drei Wochen vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine. EU-weit wurde RT erst Ende Februar 2022 verboten. Die Schweiz nimmt im Übrigen an diesem Zensurgeschehen nicht teil. Österreich wiederum hat am 13. April 2022 das „Adivisuelle Mediendienst-Gesetz“ verschärft, das jeden mit Strafe bedroht, der verbotene „ausländische Mediendienstanbieter bereitstellt oder dies ermöglicht“. Anders als in der Türkei ist die Umgehung dieser Zensurmaßnahme – noch – ein Verwaltungsdelikt.
Der neben RT.deutsch bekannteste Fall einer zensurierten Plattform ist jener von KenFM. Seit Jänner 2012 betrieb der ehemalige Moderator des Berliner Senders RBB, Ken Jebsen, seinen eigenen Kanal. Im Zuge der Corona-Krise erhielt er mit seiner kritischen Haltung zu den Regierungsmaßnahmen immer mehr Zuspruch. Dieser gipfelte in seiner per Video ausgestrahlten Antwort auf Bill Gates. Der US-amerikanische Milliardär hatte am Ostersonntag 2020 in der ARD-Tagesschau seine Vision von der Auferstehung der Menschheit nach der Pandemie verkündet: 7 Milliarden Menschen müssten geimpft werden, um der Seuche Herr werden zu können, meinte der damals 65-Jährige nicht ganz uneigennützig, hatte er doch seit Jahren in die Pharmaindustrie investiert. Ken Jebsen stellte daraufhin sein Video „Gates kapert Deutschland“ ins Netz. Binnen Tagen griffen über drei Millionen ZuseherInnen zu. Danach ging die deutsch-amerikanische Repressions- und Zensurmaschine ihren fast schon gewohnten Gang: YouTube löschte, die Medienanstalt Berlin-Brandenburg klagte, weil ihrer Meinung nach die Verbreitung von mehreren Videos auf KenFM nicht „mit gebotener Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit“ geprüft worden seien, wie es im 2020 verabschiedeten Gesetzestext heißt. Dem Angriff der Vorform des Orwell’schen Wahrheitsministeriums konnte Ken Jebsen nicht standhalten, er schloss sein Portal und floh aus Deutschland.
Bliebe nur noch, vom gegenwärtig schlimmsten Angriff auf die Meinungs- und Medienfreiheit, über den Fall Julian Assange zu berichten
Diese Angelegenheit hat nichts mit Deutschland oder Österreich zu tun, wird aber auch hier von offizieller Seite so gut wie totgeschwiegen. Weil die von Julian Assange geleitete Plattform Wikileaks im Jahr 2010 Dokumente über US-Kriegsverbrechen im Irak und Afghanistan öffentlich machte, ist der Australier seit zehn Jahren seiner Freiheit beraubt und sitzt seit April 2019 im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh.
Von Hannes Hofbauer ist zum Thema erschienen. „Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung.“ Wien, Promedia Verlag 2022.