
So stirbt eine Bewegung ■ Die österreichische Sozialdemokratie ist seit Jahren in der Krise. Viel Hausgemachtes ist dafür verantwortlich. Doch den “Roten” bläst europaweit der kalte Wind der Wirklichkeit ins Gesicht.
Von Andreas Pittler, mit freundschaftlicher Genehmigung des Autors und ein Dankeschön an den „Falter” für seine journalistische Arbeit
Aus einem einfachen Grund: Sie haben keine Antworten auf die Fragen der Zeit, schreibt Andreas Pittler in seinem Gastkommentar im „Falter”, der österreichischen Wochenzeitung.
Als Österreich 1995 der EU beitrat, waren im dortigen Parlament vier von zehn Abgeordneten Mitglieder der sozialdemokratischen Familie
Ein Vierteljahrhundert später sind es gerade noch 20 Prozent, wobei diese Statistik durch einige starke Parteien wie die spanische oder die portugiesische verzerrt wird. Der einstmals stolze Parti Socialiste des Francois Mitterand hat heute gerade noch drei von 79 französischen Mandaten, die regierende SPD 16 von 96, die griechische PASOK, unter Andreas Papandreou und Kostas Simitis jahrzehntelang quasi Staatspartei, darf gerade noch einen Mandatar nach Brüssel schicken, altehrwürdige Parteien wie die Irish Labour Party oder die Tschechische Partei der Sozialdemokraten sind gar nicht mehr in Europa vertreten. Selbst die Skandinavier nehmen sich mit 5 von 21 (Schweden) und 2 von 14 (Finnland) überaus bescheiden aus.
Eine Trendumkehr ist nicht zu sehen, im Gegenteil. In etlichen Staaten setzt sich dieser Abwärtstrend erbarmungslos fort. In den Niederlanden etwa wurden die Sozialdemokraten 2021 sogar von den Kommunisten überholt, dies vor allem deshalb, weil sie es gerade noch auf 5,7 Prozent brachten. Eine Kleinpartei mithin. In Irland gab es 2020 genau 4,4 Prozent, in Tschechien scheiterte die CSSD mit 4,7 Prozent der Stimmen an der dortigen 5-Prozent-Hürde, und in Griechenland reichte es nur deshalb noch zu acht Prozent, weil die PASOK in einer Allianz mit den Liberalen und mehreren linken Kleinstparteien angetreten war. Vor diesem Hintergrund scheint die SPÖ mit ihren 24 Umfrageprozenten noch sehr gut dazustehen. Doch der Schein trügt.
721.000 Mitglieder und 51 Prozent der gültigen Wählerstimmen. Das war die Bilanz der SPÖ unter Bruno Kreisky im Jahr 1979
Die Partei war noch eine echte Bewegung, selbst in kleineren Bezirken gab es mehrere Ortsgruppen bzw. Sektionen, in denen die Menschen politisch diskutierten, Hilfe und Rat suchten und vor allem auch einen gesellschaftlichen Zusammenhalt fanden. Neben den eigentlichen Parteiorganisationen wirkte eine Vielzahl von themenorientierten Vereinigungen, die von den Roten Falken und der Sozialistischen Jugend bis zum Pensionistenverband reichten. Arbeiterfischer, Arbeitersänger, ja sogar Arbeiterphilatelisten und Arbeiteresperantisten sowie die Tschechischen Sozialisten. Nicht zu vergessen den Arbeiterradfahrerbund Österreichs (ARBÖ) und den Arbeitersportklub Österreichs (ASKÖ), die heute freilich längst eine andere Definition für ihre Abkürzung gefunden haben.
Gemeinsam mit der SPD Willy Brandts, die damals über eine Million Mitglieder zählte, war die SPÖ die Speerspitze des „sozialdemokratischen Jahrzehnts“, das durch charismatische Linke wie Olof Palme, Andreas Papandreou, Kalevi Sorsa, Felipe Gonzalez oder Mario Suares geprägt wurde. Die politische Rechte fürchtete im Gefolge des berüchtigten 68er Jahres eine wachsende Popularität kommunistischen Gedankenguts und war darum gerne bereit, den Sozialdemokraten nennenswerte Zugeständnisse zu machen. Die 70er Jahren waren eine Ära, in der das Leben breitester Volksschichten jeden Tag ein bisschen besser wurde. Weniger Arbeitszeit, mehr Lohn, längerer und schönerer Urlaub, früherer Pensionsantritt, das eigene Leben war plan- und daher weitgehend beherrschbar. Und die Menschen wussten, wem sie das zu verdanken hatten.
Die Bewegung war ergo quicklebendig, und dennoch ließen es sich ihre Granden gefallen, auf Parteitagen unangenehme Fragen gestellt zu bekommen – wenngleich derlei nicht immer so spektakulär ausfiel wie im Fall der „Drei Fragen an Landeshauptmann Kery“, auf denen Josef Cap seine weitere politische Karriere aufbaute. So machte sich der Autor dieser Zeilen am Landesparteitag der Wiener SPÖ 1991 mit der Feststellung beliebt, dass das Gros der Funktionäre keine Zukunft habe. Ein Apercu, der sich vordergründig auf das nur sehr mangelhaft abonnierte theoretische Organ „Die Zukunft“ bezog, dessen Doppelbedeutung durchaus beabsichtigt war. Denn mit 1989 wurde alles anders.
Deutlich hallt in den Ohren des Autors noch der sozialdemokratische Jubel angesichts des Zusammenbruchs der realsozialistischen Staaten
Die simple Milchmädchenrechnung, die damals von Krethi und Plethi aufgestellt wurde, lautete schlicht: nun, da die Kommunisten von der Bühne verschwunden waren, würde alle Welt sozialdemokratisch wählen. Statt der 10 rosaroten Regierungschefs in Westeuropa wurde es bald 30 Ministerpräsidenten auf dem gesamten Kontinent geben, lautete die kühne Prognose jener, denen mit dem Fall der Berliner Mauer selbst schon der Erebos entgegengrinste, freilich ohne, dass ihnen das bewusst gewesen wäre.
Es bräuchte ein eigenes Buch, um halbwegs erschöpfend zu analysieren, weshalb des historische Pendel seit nunmehr 30 Jahren ausnahmslos nach rechts ausschlägt, doch in Kürze sei gesagt, der Kapitalismus erkannte seine Chance, sich frei und ungehindert auf der ganzen Welt auszubreiten. Und die Sozialdemokraten – zumindest die etwas Helleren unter ihnen – mussten sich eingestehen, dass sie lediglich jahrzehntelang gut geblufft hatten. Jetzt, wo es plötzlich tatsächlich ans Eingemachte ging, waren sie ebenso zahn- wie ratlos. Aus braven Verwaltern und Verteilern hätten quasi über Nacht echte Revolutionäre werden müssen, die der Habgier kapitalistischer Heuschrecken entschlossenen Widerstand entgegensetzten.
Doch diese revolutionäre Rolle hatten die Blaßroten in den Jahrzehnten (vermeintlicher) Machtteilhabe gründlich verlernt
Und so musste ihre Klientel ohnmächtig mitansehen, wie all die schönen Errungenschaften der 1970er Jahre Stück für Stück zurückgenommen wurden. So radikal mithin, dass die unselbständig Erwerbstätigen heute in vielen Bereichen schlechtergestellt sind als ihre Eltern.
Fast so fatal wie die politische Gesamtentwicklung waren die Schlüsse, die die führenden Sozialdemokraten aus dieser Malaise zogen. Man müsse sich als der „bessere Kapitalist“ präsentieren, lautete das Credo. Eilig postulierte man eine abstrakte „neue Mitte“ (eine Mitte zwischen was?), und nur vermeintliche Lichtgestalten wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Viktor Klima versuchten sich als die effizenteren Neoliberalen zu profilieren. Da wurde das Gesundheitssystem privatisiert, das Rentenalter dramatisch angehoben, die Sozialausgaben auf nahezu Null gekürzt, die Bildungschancen einkommensschwacher Schichten durch Gebühren maßgeblich beeinträchtigt, kurz, die Sozialdemokraten agierten wie die Piraten bei Asterix und Obelix: wir versenken uns selbst, dann ersparen wir uns wenigstens die Prügel.
Doch diese Rechnung ging naturgemäß nicht auf. Geprügelt wurde die Sozialdemokratie allemale. Zwar nicht von Washington oder Brüssel, wo man mit Wohlgefallen auf den sozialen Kahlschlag durch die Blassroten blickte, sondern von den eigentlich Betroffenen dieser Politik, den roten Wählern, die den Sozis in Scharen davonliefen. Und je weniger die Zustimmung wurde, desto rat- und kopfloser reagierten die jeweiligen Parteispitzen. Anstatt den grundsätzlichen Fehler in der eigenen Politik zu erkennen, verfolgten die roten Granden eine nachgerade selbstmörderische „More of the Same“-Strategie und rannten sich die Schädel in der fatalen Annahme blutig, irgendwann werde sich das eigene Haupt schon als stärker denn die elektorale Ziegelwand erweisen.
Dieser konsequent fortgesetzte sozialdemokratischen Irrweg der SPÖ ging nach 30 Jahren an der Regierung an die Substanz
Als die SPÖ 2000 gegen ihren ausdrücklichen Willen – Schüssel hätte ja ohnehin alles, was er wollte, bekommen, nur halt den Kanzlerposten nicht – auf die Oppositionsbank geschickt wurde, da zeigte sich, wie sehr das Personal der einst so stolzen Partei ausgedünnt war. Gerade noch 183.000 Mitglieder zählte der neue Parteichef Gusenbauer damals, groß waren nur noch die Vergangenheit und der Schuldenberg. Eilig verscherbelte man das Familiensilber, um wieder liquid zu werden. Der nächste Schuss ins eigene Knie. Denn mit der Auflösung der Sektionen und Ortsgruppen zerriss man natürlich auch die Verbindung zur – damals noch vorhandenen – Basis. Wer keine Heimstatt mehr fand, der fühlte sich auch nicht mehr zu Hause.
Das war aber vielleicht dem Funktionärskader gar nicht so unrecht. In den großen Zeiten stellte der Apparat gerade einmal ein Zehntel des Parteiaktivs und hatte dementsprechend wenig mitzureden. Doch je mehr die Organisation implodierte, desto mehr Gestaltungsspielraum eröffnete sich den blassen Bürokraten. Sie waren nicht länger die Angestellten einer Gesinnungsgemeinschaft, sie WAREN die Gesinnungsgemeinschaft – zumindest, was davon noch übrig geblieben war. Nach außen hin machte man weiter „Business as usual“.
Die Posten bei der SJ, der JG, dem VSStÖ etc. waren nunmehr vom jeweils letzten Mohikaner besetzt: ein Häuptling ohne Stamm
In Niederösterreich, wo zu Hans Czettels Zeiten die absolute Mehrheit nur um wenige Prozent verfehlt worden war, erreichte man nun also gerade noch ein Fünftel der Wählerschaft. Und die auch nur, weil es immer noch eine erkleckliche Zahl an Ortsparteichefs gibt, die sich mit der Bevölkerung auf Tuchfühlung befinden. Wollte die SPÖ ihren Exitus also doch noch vermeiden, müsste man genau auf diese Grassroots-Menschen aufbauen. Doch stattdessen setzt man weiter unverdrossen auf den Zug der Lemminge.
Der neue Mann in NÖ ist ein Produkt der Achse Doris Bures-Pamela Rendi-Wagner. Er hat keine Ahnung von dem Land, das er nun politisch vertreten soll, und das wird auch nicht von ihm erwartet. Sein Job besteht darin, der Parteivorsitzenden den Rücken freizuhalten. Wobei die Frage im Raum steht, wie lange ihm das gelingen wird. Denn überdeutlich steht schon an der Wand der Löwelstraße – die übrigens auch bald versilbert wird – das Grafitto: Der Letzte macht das Licht aus. Bei den aktuellen Energiepreisen vielleicht nicht einmal die größte Katastrophe.
Prof. Dr. Andreas Pittler, geboren 1964 in Wien, war sozialistischer Jugendfunktionär (zwischen 1984 und 1994 saß er der Reihe nach im Bundesvorstand von SJ, VSStÖ und JG), später Redakteur des „Falter“ und anschließend Parlamentsbeamter. Bekanntheit erlangte er als Bestsellerautor mit den Kriminalromanen rund um Ermittler David Bronstein. Seine Werke sind mittlerweile in acht Sprachen übersetzt.
Dank an: Falter Die Wochenzeitung