
Aktuelle Herrschaftstechniken ■ Wie die kapitalistischen Eliten ihre Macht festigen.
Von Anne Rieger, erschienen in den „Marxistischen Blätter” 4/2023
Mit Schlagstock und Pfefferspray, Hunde- und Reiterstaffel, Drohnen, mehreren BFE-Einheiten (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten) bedrängte die Polizei friedlich demonstrierende Menschen auf der 1. Mai Demo 2023 in Stuttgart. Von Repression, Einschüchterung bei der Ausübung des in der »Demokratie« zugesagten Recht aus Meinungs- und Demonstrationsfreiheit wird schon seit Jahren von den Herrschenden weltweit Gebrauch gemacht. Immer häufiger auch auf Gewerkschaftsaktionen in Deutschland.
Wir sahen, wie die hartnäckigen Repressionen des Macronregimes über Monate gegen die Französische Arbeiterschaft in deren Kampf gegen die Heraufsetzung des Rentenalters eingesetzt wird. In den Medien wird meist Gewalt durch Demonstranten in den Vordergrund gestellt. André Hemmerle, Sekretär der französischen Gewerkschaft CGT, berichtet dagegen: »Die Gewalt geht in erster Linie von der Polizei aus.
Das haben wir auch in Strasbourg am 6. April erlebt. Die Einsatzkräfte haben bei einer Demonstration plötzlich völlig ohne Grund den Ordnungsdienst der Gewerkschaften mit Tränengas und Schlagstöcken angegriffen. Natürlich haben sich unsere Ordner gewehrt … Die Folge davon war, dass ein CGT-Mitglied zu vier Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde. Ein Kollege einer anderen Gewerkschaft wurde ebenfalls zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt.«1
Aber auch kleinere aktive Gruppen, die die stille Sympathie eines Teils der Bevölkerung hinter sich sehen, werden jetzt massiv drangsaliert. Mit einer bundesweiten Razzia schlugen die bayerischen Behörden im Mai gegen die Klimaaktionsgruppe »Letzte Generation« zu. Sie beschlagnahmte die Internetseite und ließ 15 Wohnungen und Geschäftsräume in sieben Bundesländern durchsuchen. Der Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung werden sieben Personen beschuldigt.
Auf der anderen Seite der Erdkugel hat die Regierung Kishida versucht, jede Aktion gegen den G7-Gipfel zu unterdrücken. 24.000 »Sicherheitskräfte« kontrollierten Hiroshima, das öffentliche Leben war praktisch zum Erliegen gekommen. Bus- und Bahnverkehr wurden eingestellt bzw. eingeschränkt, 140 Schulen und die Autofabrik Mazda waren geschlossen, das Gelände des Friedensparks mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt.Die Beispiele lassen sich unendlich ausweiten.
Keinesfalls kommen die Herrschenden damit immer durch, wie sich in Frankreich zeigt
Trotz des Dekrets des Präsidenten am Parlament vorbei, und obwohl der Verfassungsrat zweimal die Volksabstimmung abgelehnt hatte, riefen die französischen Gewerkschaften zu weiteren Demonstra- tionen am 1. Mai auf. 2,3 Millionen Menschen folgten ihnen auf 300 Kundgebungen. Die arbeitenden Menschen geben den Kampf nicht auf, für den 1. Juni war ein weiterer Aktionstag angesetzt. Die Krise des Kapitalismus verschärft die Klassenauseinandersetzun- gen um Umverteilung, Klimagerechtigkeit und Erhaltung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten.
Die ökonomische und klimatische Spaltung der Gesellschaft entsprechend der Klassenlage und Folgen des Kolonialismus werden für immer mehr Menschen sichtbar. Reallohnverluste auf der einen, Riesenprofite bei Großkonzernen auf der anderen Seite. Vermehrt werden diese um Finanzgeschenke aus der Steuerkasse.
An der Spitze der Profiteure stehen Rüstungs-, Energie- und Immobilienkonzerne. Vor dem Hintergrund der Verarmungspolitik breiter Teile der Bevölkerung nehmen Streiknotwendigkeit und -bereitschaft zu, nicht nur international, auch in deutschen Tarifrunden. Zunehmend sehen sich die Herrschenden und ihre Regierungen gezwungen, verfeinerte Techniken zu ihrer Herrschaftssicherung zu entwickeln und anzuwenden. Die bürgerliche Justiz rechtfertigt die Mittel, um stärker als ohnehin schon, gegen sozialökologische, antifaschistische und Friedensbewegungen, also gegen Aktionen, Streiks, Versammlungen, Demonstrationen, Waldbesetzungen und Straßenbeklebungen scheinbar legitimiert vorzugehen. Die Repressionstechniken umfassen vielfältige offene und versteckte Formen, die für die Bevölkerung oft kaum wahrnehmbar sind. Die Pressefreiheit wird mit Durchsuchungen von Journalistenwagen, Provokationen, Angriffen, Drohungen und auch Tötungen von JournalistInnen behindert.
Zeitungen mit antifaschistischer Ausrichtung werden als verfassungsfeindlich deklariert
Auch Organisationen wie die altehrwürdige VVN- BDA musste sich die Gemeinnützigkeit erst wieder mühsam einklagen. Der Versuch, die DKP von der Bundestagswahl 2021 auszuschließen, faktisch ein Parteiverbot, richtete sich gegen alle DemokratInnen, Gewerkschaften und Friedensbewegte. Fortschrittliche Wissenschaftsbetriebe werden durch finanzielle Austrocknung geschliffen.
Schon im Vorfeld von Protest und Widerstand lassen die Mächtigen zum Mittel der Einschüchterung greifen, damit Menschen ihr Demonstrationsrecht aus Angst nicht wahrnehmen. Strafzahlungen und Haft gegen AktionistInnen der Letzten Generation oder die Retter der Forste, wie des Hambacher Forstes, gegen die Bagger der Braunkohlebarone, sollen die Aktiven ins gesellschaftliche Abseits und in die Armut treiben.
Dazu dienen das Furcht einflößende Aufstellen von Polizei. Razzien, Präventivhaft und die Art der Berichterstattung über die Aktionen. Nicht die friedlich Demonstrierenden und ihre Forderungen werden in den Vordergrund gerückt, sondern mit Vorliebe werden Bilder von Gewalttätigkeiten gezeigt, die meistens von Polizeikräften durch Abdrängen, Provokationen wie Stoppen, Einkesseln oder Aufspalten der Demonstrierenden initiiert werden. Auch Datenanalyse, Präventivhaft sollen im Vorfeld Angst erzeugen und Menschen abhalten, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, gegen die Staatsgewalt der Herrschenden zu opponieren.
Rainer Mausfeld, emeritierter Professor für Allgemeine Psychologie, hat sich umfassend in »Angst und Macht – Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien«2 mit dem Thema der Angsterzeugung als dem Neoliberalismus inhärente Herrschaftstechnik befasst. Sie diene den Eliten in ihrem »kompromisslosen Bemühen, dem gesellschaftlichen Projekt der Aufklärung ein für alle Mal ein Ende zu bereiten und grundlegende Konzepte der Aufklärung, insbesondere Vernunft, Freiheit und Autonomie, als Mythen zu entlarven.« Gelänge dies, »wäre auch emanzipatorischen Gesellschaftskonzeptionen ein für alle Mal das Fundament entzogen«, so der Autor. Mausfeld deckt die Systematik dieser Indoktrination auf und macht uns sensibel für die vielfältigen psychologischen Beeinflussungsmethoden.
Er erläutert: Angst führe zur »Verengung des Aufmerksamkeitsfeldes und des Denkens«
Eine kollektive Angsterzeugung ließe sich daher nutzen, »um Vorgänge für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen«. Zu denken wäre hier an die sogenannte »Zeitenwende«-Rede von Bundeskanzler Scholz drei Tage nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. Als Erster kündigte er das 100 Milliarden Euro-Paket für die Bundeswehr an, nachdem er zuvor ausführlich die Ängste der Menschen vor dem Krieg befeuert hatte3.
Die Aufmerksamkeit der Menschen war auf die typischen Einzelereignisse eines Krieges in der Ukraine fokussiert, so dass Scholz sich später sogar als »Zögerer« in der Waffenlieferungsfrage darstellen lassen konnte. Angst blockiere »die Befähigung, aus den eignen gesellschaftlichen Erfahrungen angemessene Schussfolgerungen zu ziehen«. So können gesellschaftliche Veränderungsenergien statt gegen die Herrschenden auf »Ablenkziele« gerichtet werden. Die Hetze gegen MigrantInnen zeigt, wie erfolgreich diese Strategie eingesetzt wird. Auch Erwerbs- und Obdachlose sind davon betroffen. Erzeugte Angst verlangt aber auch nach »Spannungsreduktion«, nach Abreaktion der Spannung. Dazu wird der Bevölkerung Konsumismus, Zerstreuung und Unterhaltung angeboten und so »das Ausmaß der Entpolitisierung« gesteigert.
Eine andere Form, Proteste nicht aufkommen zu lassen, ist das Vermummen von Arbeitskämpfen durch die Medien im eigenen Land. Ein Sekundenausschnitt über Arbeitskämpfe hier, längere Darstellungen über Kämpfe im Ausland. Das soll Apathie und Resignation fördern. »Bei uns geht nix« soll unsere Kampfkraft unsichtbar machen. Es ist ein widersprüchliches Verfahren, denn das Zeigen des Widerstands in anderen Ländern kann auch Mut machen, zu vermehrtem organisierten Widerstand auch bei uns.
Doch trotz der vielfältigen Bemühungen zur Förderung der Passivität der Menschen lässt sich vielfacher Protest und Widerstand in vielen Teilen der Welt finden. Eben auch bei uns. Nach Auffassung von Noam Chomsky, renommierter US-Professor, sind die Medien – ohne direkter staatlicher Kontrolle zu unterliegen – einerseits Propagandainstrumente der Außenpolitik, andererseits dienen sie der gesellschaftlichen Herstellung von Konsens. Er beleuchtet Kommunikationsstrategien, die Sylvain Timsit in Strategien der Manipulation zusammengefasst hat.
Eine der bedrückendsten ist in Zeiten der Ausweitung des Krieges wohl: »Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, steht auf der Seite des Gegners und ist ein Verräter.« Wichtiges Element der Manipulation besteht darin, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von wichtigen Problemen und Veränderungen abzulenken, die von den politischen und wirtschaftlichen Eliten entschieden werden durch Überschwemmung mit kontinuierlichen Ablenkungen unbedeutender Informationen. Offensichtlichstes Vorgehen ist es, über Fußball, Ergebnisse, Fouls, das Liebesleben prominenter Stars, Filmpreise bei der Berlinale etc. umfassend in den Medien zu informieren. Gleichzeitig wird die finanzielle Austrocknung im sozialen Wohnungsbau, in der Pflege, im Gesundheitswesen medial ignoriert oder die Probleme dort psychologisch individualisiert. Über den Angriff aufs Streikrecht durch den Eilantrag der Bahn beim Arbeitsgericht Frankfurt gegen die EVG wurde nur kurz berichtet, während ausgefallene Züge tagelang Medien und Diskussion blockierten.
Über Jahrzehnte wurden zu wenig qualifizierte FacharbeiterInnen ausgebildet
Jetzt fehlen Fachkräfte und es wird in andern Ländern nach gut Ausgebildeten gefischt, die fürs Kapital hier kostenlos zu haben sind. Der Brain Drain kommt die Industriellen billig, die Arbeitslosigkeit hier bleibt hoch. Um Menschen dazu zu bringen, eine unannehmbare Maßnahme zu akzeptieren, reicht es aus, sie schrittweise über mehrere Jahre hinweg anzuwenden.
Licht, Druck, Schallstärke muss ein gewisses Ausmaß je Zeiteinheit übersteigen. Im Bereich der Wahrnehmung ist es selbstverständlich, dass ihre Veränderung ein gewisses Ausmaß je Zeiteinheit übersteigen muss, um von Menschen bemerkt werden zu können. Ebenso hängt auch die Wahrnehmbarkeit politischer und ökonomischer Veränderungsprozesse von deren Intensität ab.
Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche kann nicht von heute auf morgen eingeführt werden. Die Privatisierung der Krankenhäuser benötigte Jahre, bis sie und das Kosten-Nutzen-Prinzip akzeptiert wurden. Heute gibt es als Konsequenz daraus ein Drittel weniger Betten als vor 30 Jahren. Auch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten ist über Jahrzehnte hinweg organisiert und medial vermittelt worden. 1967 wurde Gleitzeit, in den 90er Jahren Teilzeitarbeit eingeführt. Beide wurden damals unter dem Label Freiwilligkeit »angeboten«. Heute sind sie quasi »natürlicher« Teil der Arbeitsmodelle, über die die Firmen verfügen kann, weil die Gesellschaft sie akzeptiert.
»Sollen geplante Verschlechterungen der Bedingungen für einen Großteil der Bevölkerung eingeführt werden, gilt es, die vermeintlichen Gründe hierfür früh genug an den Horizont zu heften. Solange es noch nicht akut ist, wird die Zivilgesellschaft wenig Motivation aufbringen, die Behauptungen zu überprüfen, ist es akut, lässt sich auf eine Geschichte der Ankündigungen verweisen, die das konstruierte Problem als vertraute Tatsache erscheinen lassen.«4
Demographische Wandel und globale Konkurrenz wurden frühzeitig ins Rampenlicht gesetzt
In Zeiten des kapitalen Dauerversagens sind Lohn-, Renten- und Sozialkürzungen zwar als »schmerzhafte« jedoch zeitgemäße Ideen akzeptiert werden. Will man unangenehme Inhalte verbreiten, bietet es sich an, die Zuhörer in eine Kinderrolle zu bringen. Man verwendet eine schlichte Sprache, die auf relevante Details verzichtet, und verkündet alles in einem gönnerhaften, zugeneigten oder auch fürsorglich-mitfühlenden Ton.
Der gewünschte Erfolg ist das Nicht-Hinterfragen, die vertrauensselige Hinnahme des Gesprochenen, Kritiklosigkeit. Die deutsche Außenministerin Annalena Bärbock kann hier eingeordnet werden: Leere Worthülsen im zutraulichen, verständnisvollen Ton.
»Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.« (ntv, 24.2.2022).
»Beredtes Schweigen ist keine Form von Diplomatie« (taz, 1.12.2021).
»Lasst uns gemeinsam zeigen, dass wir stärker sind als dieser Krieg«, (Grünen-Parteitag in ihrer Rede vor den gut 800 Delegierten (15.10.2022).
Der Missbrauch des emotionalen Aspektes ist eine klassische Technik, um einen Kurzschluss in der rationalen Analyse und im kritischen Sinn des Einzelnen zu verursachen. Die Grünen sind da PerfektionistInnen, wenn sie erläutern, wie schwer ihnen die Zustimmung zu einem Gesetz gefallen ist. Robert Habeck, der es zum Bundesminister gebracht hat, lässt sich »im weißen Hemd, die Krawatte locker über die Schulter geworfen, ein zurückhaltendes Lächeln« in Singapur in dieser Pose ablichten. »Er präsentiert sich als lockerer, hemdsärmeliger Politiker. Als Macher. Als jemand, der anpackt«5.
Minister Habeck kommt durch, wenn er per Gesetz Details zum Heizverhalten einfordert
Um Menschen unfähig zu machen, die Technologien und Methoden zu verstehen, die für ihre Kontrolle und Versklavung verwendet werden. muss die »Qualität der Bildung, die den unteren Klassen gegeben wird, so schlecht und mittelmäßig wie möglich sein, so dass die Distanz der Unwissenheitsplanung zwischen den unteren Klassen und den oberen Klassen von den unteren Klassen nicht überbrückt werden kann«, so Chomsky.
Dann können einschneidende Veränderungen, also Kürzungen des Sozialstaates, von gesamtgesellschaftlicher Tragweite auf banale Weise gerechtfertigt werden: »Das kostet Arbeitsplätze!«, »Wir können uns diesen Sozialstaat nicht mehr leisten!«, »Wir brauchen Strukturreformen!«, »Die Wettbewerbsfähigkeit muss gesteigert werden!« Fördern einer Haltung, sich mit Mittelmäßigkeit zufrieden zu geben.
Die Öffentlichkeit soll glauben, dass es in Mode ist, dumm, vulgär, ignorant und ungebildet zu sein. Hier gilt es, die richtige Haltung in den Menschen auszulösen, um die brisanten Informationen auf unfruchtbaren Boden fallen zu lassen: »Ihr seid durchschnittlich! Kümmert euch nicht um derart gehobene Probleme, das regeln andere! Es hat nichts mit eurem Lebensumfeld zu tun!«
Den Krieg in der Ukraine kann nicht von euch gelöst werden. Man kann ja nichts dagegen machen. Die Menschen sollen denken, sie seien wegen zu wenig Intelligenz, Kompetenz oder Bemühungen schuld am Misserfolg. Das mindert ihr Selbstwertgefühl.
Dies führt zur Depression und Blockade, und ohne Handeln gibt es keine Revolution
Deutlich wird das beim Klimawandel. Hier wird den Menschen eingeredet, sie müssen ihren »Fußabdruck« persönlich verbessern. Milliarden Tonnen Kohlenstoff, die in Kriegen, beim Rüstungsbau, bei Militärmanövern, bei der Verschwendung durch die Industrie, bei Flugkilometern der Reichen verursacht werden, sollen übersehen werden.
In den letzten 50 Jahren häufte das »System« durch den wissenschaftlichen Fortschritt dank der Biologie, Neurobiologie und der angewandten Psychologie ein großes Wissen über die menschliche Realität im physischen als auch im psychischen Bereich an. Dieses ist aufgrund der Lebenslage der Beherrschten nur ihnen zugänglich. Mit Google, Facebook etc. geben wir zudem freiwillig Daten über uns her, die dieses Wissen immer weiter vervollständigt. Gegenwärtig kennt das »System« den einzelnen Bürger besser als dieser sich selbst und verfügt somit über ein hohes Potential zur Steuerung menschlicher Handlungen. Edward Snowden gab Einblicke darüber, in welchem Ausmaß die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken von Geheimdiensten zu diesen Grundlagen beitragen.
Nicht ganz so leicht durchschaubar, aber äußerst wirksam, sind Techniken der Beherrschung, der Mehrheit durch die Handvoll Profiteure des kapitalistischen Systems, die der Gewerkschafter Patrick Schreiner analysiert: das Herrschaftskonzept des Neoliberalismus der freiwilligen Unterwerfung, die Selbstoptimierung.6
Er analysiert, wie das System in alle Lebensbereiche hineinwirkt, die auf den ersten Blick eher unpolitisch scheinen. Dazu nimmt er u. a. Ratgeberliteratur und Management-Trainings, Esoterik, Sport und Fitness, Stars, Fernsehformate wie Reality-TV und Seifenopern, Soziale Netzwerke im Internet sowie Konsum und Lifestyle in den Blick. Der Kapitalismus verankert dadurch »bestimmte Annahmen, Wünsche und Handlungen und Überzeugungen als richtig, gut und gerecht im Denken der Menschen.« Er beschreibt »Beispiele aus Privatleben, Alltag und Populärkultur, an denen deutlich wird: Systemkonforme Gedanken, Moral und Handeln sind in Bereichen präsent, in denen sie gar nicht als solche wahrgenommen werden. Sie gelten als selbstverständlich, als normal, werden oft sogar als etwas Positives verstanden – als etwas, das sich einfach gut und richtig anfühlt. Mit Politik, mit Interessensgegensätzen, mit sozialen Konflikten scheint der Kapitalismus in unserem Alltag nichts zu tun zu haben. Was sollte etwa an Castingshows, an esoterischen Hilfsmittelchen, an Ratgeberbüchern, an Kochsendungen oder an sportlicher Betätigung politisch sein?«
Mit der Entwicklung der Kritischen Psychologie, die sich dagegen wendet, dass Menschen lediglich als Objekte der als gegeben angesehenen Verhältnisse eingeordnet werden und damit schrankenlos manipuliert werden können, sind wissenschaftlich fundierte Gegenströmungen entstanden.
Die Kritische Psychologie der Holzkamp-Schule bietet alternative Denkweisen an
Diese Denkmodelle können gegen diese angebliche Möglichkeit der totalen Vereinnahmung der Menschen angewendet werden. Sie verweisen darauf, dass Menschen nicht nur »Opfer« sind, sondern als Subjekte ihre Lebensbedingungen selbst schaffen und verändern. Als »Subjektwissenschaft« entwickelte sie das Konzept der »Handlungsmöglichkeiten«. Sie stellen sich als Möglichkeit kollektiven Handelns dar, statt auf die individuelle Wahrnehmung des dargebotenen zu verharren und nur auf von Oben gesendetes zu reagieren. Gemeinsam organisierte Aktionen, Proteste, Revolten gegen die jeweils herrschenden Klassen sind Jahrhunderte lang durchgeführte Formen des Widerstands. Sie wären nicht zustande gekommen – oftmals auch erfolgreich –, wenn Menschen sich dem herrschenden Machtverhältnissen widerstandslos gebeugt hätten.
Dazu Holzkkamp: »Diese Handlungsfähigkeit hängt ab von den Möglichkeiten, die man hat, von der gesellschaftlichen Situation, in der zu handeln ist. Die Handlungsmöglichkeiten können natürlich ungeheuer reduziert sein. Denken wir beispielsweise an faschistische Staaten. Aber selbst unter den Bedingungen des Faschismus in diesem Lande hatte jeder noch Handlungsmöglichkeiten, die er nutzen oder vergeben konnte.
Unser Ansatz einer subjektwissenschaftlichen Analyse geht von der Annahme aus, daß ein Mensch, solange er lebt, Handlungsalternativen hat. Resignation, woher sie auch kommen mag, bedeutet immer, daß man die Situation zu allgemein und zu global betrachtet, daß man nicht genau genug hinschaut oder hinschauen kann, um die eigenen Handlungs- und Bestimmungsmöglichkeiten zu sehen«.7
Chomsky bietet an: »Bürger demokratischer Gesellschaften sollten Kurse für geistige Selbstverteidigung besuchen, um sich gegen Manipulation und Kontrolle wehren zu können«. Diese geistige Selbstverteidigung bietet sich in jedem kollektiv organisierten Widerstandsmoment an, sei es der Widerspruch im Schulklassenraum, in der Ortsgemeinschaft für den Bau einer Ampel oder eines Zebrastreifens, wie in gewerkschaftlichen Kämpfen, auch wenn sie nicht immer das gewünschte Ziel erreichen. Auch der hoch organisierte politisch-mediale Versuch, jegliche andere Deutung der Ursache des Ukraine-Krieges tot zu schweigen, als die des herrschenden Mainstreams, blieb letztlich erfolglos. Gegen jede Herrschaftstechnik entwickeln sich Gegenstrategien.
Marxistische Blätter 4 / 2023 Inhalt.
Anne Rieger ist Psychologin, Ex-IG Metall-Bevollmächtigte, Aktivistin im Kasseler Friedensratschlag und lebt in Graz.
Sie ist Mitarbeiterin und Autorin im UHUDLA.