BRD & DDR ■ Nachlese zum 3. Oktober, dem Feiertag der Deutschen.
Von Martin Leo
Es gab 1990 DDR- und BRD-Bürger, die sich aus verschiedenen Gründen vor einem vereinigten Deutschland fürchteten. Ich gehörte zu ihnen. Aber ich fand es trotzdem auch schon damals völlig falsch, deswegen einen einheitlichen deutschen Staat vollkommen abzulehnen.
Vor mir liegt der Aufruf für eine Demonstration am 12.Mai 1990 in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main. “Nie wieder Deutschland” hieß das provozierende Motto damals. Aufgerufen wurde “gegen den deutschen Nationalismus, gegen die Kolonisierung Osteuropas und gegen die Annexion der DDR”.
Aufruf und Demonstration waren von zahlreichen Einzelpersönlichkeiten aus Gewerkschaften, antifaschistischen Gruppen, Gliederungen von Friedensorganisationen wie Pax Christi, von Feministinnen, von Erwerbslosengruppen und vielen anderen Mitgliedern von Vereinen und Verbänden. unterzeichnet worden.
Zu den wichtigeren unterstützenden Organisationen zählten das Auschwitz-Komitee in der BRD, die DKP, die SDAJ, die Radikale Linke, Gliederungen der norddeutschen GAL und des Kommunistischen Bundes (KB) sowie der hessische Landesverband der in Westdeutschland neuen PDS.
Im Aufruf hieß es auch ausdrücklich in Abgrenzung zu Hans Modrows Konföderationsmodell, das sich an frühere DDR-Vorschläge und an Ideen des sogenannten Runden Tischs der DDR anlehnte:
“Wir lehnen alle Wiedervereinigungspläne – in welcher Form auch immer – ab”
Was hier der Ablehnung anheim fiel, war damit auch Modrows Idee eines neutralen Deutschlands. Diese Idee wurde imperialistischen Wiedervereinigungsideen gleichgestellt. Objektiv half man dadurch, besonders Modrows Vorstellungen eines friedlicheren Deutschlands zu beerdigen. Das spielte direkt der Nato in die Hände, die im Aufruf keinerlei Erwähnung fand.
An anderer Stelle wird die unhistorische Gleichsetzung von souveränem deutschem Nationalstaat mit deutschem Imperialismus und Chauvinismus noch deutlicher, wo es hieß:
“Nationale Selbstbestimmung kann nur eine Waffe der kolonisierten und in Abhängigkeit gehaltenen Völker gegen ihre Unterdrücker sein. Weder die BRD noch die DDR sind kolonisierte Länder. Ein durch Selbstbestimmung der Deutschen zu realisierendes Recht auf Vorherrschaft, ein Recht auf Imperialismus, kann es nicht geben…”
Solche Formulierungen mögen zum Teil den damaligen Befindlichkeiten geschuldet gewesen sein. Tatsächlich aber enthielten sie bereits eine Absage an die Idee nationaler Souveränität auch entwickelterer Staaten gegenüber der Dominanz der noch verbliebenen imperialistischen Weltmacht USA.
Es ist insofern kein Wunder, dass der Gedanke der Neutralität im Aufruf keine Rolle spielte. Stattdessen wurde die Aufmerksamkeit auf eine wohl klingende Forderung gelenkt, die von vornherein in dieser Form keine Aussicht auf Realisierung hatte:
“Für einseitige Abrüstung hier und sofort – für eine BRD ohne Armee”
Dass die Selbstbestimmung des deutschen Volkes in Wahrheit gerade das Recht auf eine soziale, demokratische, antifaschistische und friedliche Existenz verlangte, kam diesen irritierten, zum Teil objektiv gesehen sogar “ersten Antideutschen” offenbar nicht in den Sinn.
“Nie wieder Deutschland” zu fordern, bedeutete, der eigenen Bevölkerung generell nur noch zuzutrauen, deutsche Selbstbestimmung ausschließlich als das Recht auf Vorherrschaft ausleben zu können. Ganz nebenbei wurden hier wesentliche Einsichten darüber, wer den deutschen Imperialismus, Faschismus und Chauvinismus hervorgebracht hatte, zu Gunsten einer Kollektivschuldthese entsorgt. Am Ende war es hier das deutsche Volk, dass das “Recht auf Imperialismus” verlangte.
“Nationaler Selbstbestimmung” wurde hier vor allem kein sozialer und klassenbezogener Inhalt gegeben. Nationale Selbstbestimmung war jedoch selbst für die kolonisierten Völker kein allein auf die formale staatliche Existenz beschränktes Ziel, sondern beinhaltete auch immer das Recht auf eine eigene gesellschaftliche Ordnung.
Dreiunddreissig Jahre nach diesem Aufruf frage ich mich, wie viele von den noch lebenden Personen dieses Aufrufs gerade in der heutigen Politik der Bundesrepublik gegenüber der Ukraine genau dieses imperialistische Deutschland erkennen mögen, das sie damals aus guten Gründen, aber mit schlechten Argumenten ablehnten.
Denn befanden sich nicht bereits in diesem Aufruf jene Fallstricke, die zur faktischen Versöhnung eines Teils damals subjektiv Linker mit dem heutigen Nato-Deutschland führten, das sich seit 2014 mit der Bandera-Ukraine verbündet, um “Russland zu ruinieren”?
Sind nicht aus einem Teil der damaligen Unterstützer des Aufrufs auch jene “Antideutschen” hervorgegangen, für die am Ende jede Kritik an Israel antisemitisch sein sollte? Hat sich nicht gerade die grüne Partei, aus deren Reihen damals viele Unterschriften für den Aufruf kamen, zu einer Partei gesamtdeutscher Kriegshetzer entwickelt?
Ließ sich nicht bereits aus der falschen Vorstellung, dass ein selbstbestimmter deutscher Nationalstaat per se eine Gefahr für andere darstellte, unmittelbar die Rechtfertigung dafür ableiten, dass die Bundesrepublik ihre Souveränität im Rahmen der Nato an die USA abtritt?
Ist nicht die Mißachtung der nationalen Souveränität anderer Staaten, die Öffnung ihrer Grenzen und ihrer eigenen Ressourcen für das Finanzkapital der Traum des neoliberalen Kapitalismus?
Die ehemalige (west-)deutsche Linke wusste damals nicht, wie man eigene nationale Interessen definiert und, schlimmer noch, sie wollte es in weiten Teilen auch nicht. Dabei entstammten viele fortschrittliche Kräfte, vorneweg die Marxisten, einer guten Tradition, in der nationale Kämpfe nicht von Klassenkämpfen getrennt wurden.
“Diese Losung ‚Nie wieder Deutschland‘, das kann nicht die unsere sein. Deutschland ist eine Realität. Wir gehören zu diesem Land, wir haben in ihm Verantwortung zu tragen.“
Patriotismus und Internationalismus nach der Fußball WM in Deutschland: Kein Schlußstrich per Schlusspfiff! Interview mit Peter Gingold, Bundessprecher der VVN-BdA. In: VVN-BDA, Antifa-Nachrichten Nr. 3, August 2006
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