
50 Jahre portugiesische Aprilrevolution ■ Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel“ Serie und ein wissenschaftlich, historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone“. Teil I
Von Martin Leo
Der Autor dieser längeren Arbeit über die Agrarreform in Portugal, bot den „Linken Deutschsprachigen Freunden Lagos“ (LDFL) an, sie in mehreren Teilen auf diesem Portal zu veröffentlichen. Der Verfasser hatte dabei bereits den bevorstehenden 50. Jahrestag der portugiesischen Revolution von 25. April 1974 im Auge.
“Im Inventarverzeichnis der Kriege hat auch das Latifundium seinen Platz, wenn auch einen kleinen”
José Saramago, aus: „Hoffnung im Alentejo”, Roman. Berlin / DDR 1985, S.114
Das Agrarreformprojekt war einst ein Eckpfeiler des revolutionären Entwurfs für die portugiesische Nation im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Es bietet auch heute interessanten Stoff, der hilft, die portugiesische Gegenwart zu verstehen. Die schon 1988 als politikwissenschaftliche Diplomarbeit verfasste Übersicht ist nicht aktualisiert worden. Sie ist daher selbst bereits „historisch“. Gleichzeitig ist sie im deutschsprachigen Raum auch aktuell noch immer die einzige umfassende wissenschaftliche Übersicht über Entstehen und Vergehen dieser „Errungenschaft der Revolution des 25. April“.
Martin Leo, der Autor lebt als Rentner in Lagos, Portugal, und will dazu beitragen, das demokratische Erbe seiner Wahlheimat zu verteidigen. Er ist aktiv bei den LDFL.
Bei Nennung der Quelle: Martin Leo & UHUDLA darf urheberrechtlich auf die Arbeit Bezug genommen werden.
1. Einleitung
Der portugiesische Agrarreformprozess entwickelte sich im Gefolge des militärischen Umsturzes vom 25.April 1974, der die Voraussetzungen für umfassende politische und soziale Veränderungen schuf und der Ausdruck einer tiefen Krise des alten Regimes war.
Eine Jahrzehnte überdauernde, korporativistisch geprägte faschistische Diktatur1 hinterließ, gemessen an ökonomischen und sozialen Strukturdaten wie Prokopfeinkommen, Durchschnittslohn oder Analphabetenrate, ein finsteres Erbe.
Großunternehmer und Großgrundbesitzer galten als verantwortliche Stützen des gestürzten “Estado Novo”; gegen sie gerichtete Maßnahmen gab es viele und sie fanden starken Widerhall in der Bevölkerung
Dort, wo die von militärischen und zivilen Kräften gebildeten Provisorischen Regierungen nicht handeln konnten, nicht handeln wollten oder Entscheidungen verzögerten, schuf oft erst eine engagierte Basisbewegung die Fakten, von denen viele im nach-hinein auch staatlich und legislativ anerkannt werden mussten.
Nicht dafür allein jedoch gilt die Agrarreform, wie sie sich im wesentlichen 1975 – nach einem gescheiterten Rechtsputsch und politischer Radikalisierung – herausbildete, als Beispiel, sondern auch für die Schärfe, mit der sie die Frage nach der Rechtmäßigkeit der bis dahin gültigen sozialen Ordnung in einem Teil des ländlichen Portugals stellte:
Dadurch nämlich, dass die Protagonisten der Agrarreform durch Enteignungen und Nationalisierungen, durch Änderung der bestehenden Eigentums- und Produktionsverhältnisse einer neuen Produktionsweise zum Durchbruch verhelfen wollten, gliederten sie die Reform ein in ein alternatives gesellschaftliches Gesamtprojekt, in den Aufbau einer nach ihrem Verständnis ausbeutungsfreien, sozialistischen und demokratischen Gesellschaft. Zusammen mit der Nationalisierung der Schlüsselindustrien, der Banken und Versicherungen sollte die Agrarreform die Grundlage zur Bewältigung der drückendsten Probleme des Landes und für einen einzuschlagenden nichtkapitalistischen Entwicklungsweg bilden.
Ihre Intentionen sprengten daher den Rahmen einer auf antifaschistische und bürgerlich-demokratische Inhalte begrenzten Umwälzung und verbanden sich in Bezug auf die Umgestaltung ökonomischer Machtverhältnisse mit einer weitergehenden Perspektive. Diese Tatsache, aber insbesondere auch der Elan und Enthusiasmus, den die unmittelbaren Nutznießer der Agrarreform bei der Besetzung latifundistischen Eigentums und der Einlösung ihres Anspruchs auf soziale Gerechtigkeit an den Tag legten, weckten die Aufmerksamkeit einer sympathisierenden linken Öffentlichkeit auch im Ausland und machten die Agrarreform zu einem geradezu spektakulären Ereignis mit weit über Portugals Grenzen hinausgehender Bedeutung.
Mit der 1976 unter anderen, nämlich kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Vorzeichen einsetzenden Stabilisierung der politischen Verhältnisse und der Marginalisierung der mit dem Agrarreformprozeß am engsten verbundenen politischen und sozialen Kräfte geriet das hinter der Agrarreform stehende Projekt jedoch zunehmend in Widerspruch zu den Zielvorgaben, die veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnisse nun hervorgebracht hatten. Der daraus entstandene Konflikt war der Konflikt zwischen zwei verschiedenen Gesellschaftsentwürfen: einem revolutionären, antikapitalistischen, auf eine neue Gesellschaftsordnung gerichteten Projekt und einem gegenrevolutionären, das auf eine Stärkung kapitalistischer Produktionsverhältnisse gerichtet war.
Im Unterschied zur Entstehungsphase fand dieser weniger spektakuläre, aus der Sicht der betroffenen Landbevölkerung dafür um so mühsamere Entwicklungsabschnitt des Agrarreformprozesses weitaus weniger internationale Beachtung
Ziel dieser Arbeit ist es, ausgehend von einer materialistischen Politiktheorie den Verlauf der Auseinandersetzungen, die seit 1976 zu einer Einschränkung des Agrarreformsektors auf ein Drittel seines ursprünglichen Umfange führten, nicht nur nachzuzeichnen, sondern an diesem Beispiel aufzuzeigen, welche Spuren unterschiedliche Reformvorstellungen und gegensätzliche Gesellschaftskonzeptionen im nachrevolutionären Portugal in der Agrarreformzone hinterließen.
Es soll auch untersucht werden, ob und inwieweit die Agrarreform den in sie gesetzten Erwartungen unter den dargestellten Bedingungen gerecht werden konnte und ob sich die Ergebnisse “agrarreformfeindlicher” Politik an ihren selbstformulierten politischen, sozialen und ökonomischen Zielen messen lassen können. Die Verwendung der Attribute “revolutionär” und “gegenrevolutionär” soll dabei weniger der Charakterisierung konkreten politischen Handelns dienen als der Bestimmung der jeweiligen Endpunkte eines bipolaren politischen Prozesses. Ihr Bezugspunkt ist die “portugiesische Revolution”, worunter in Übereinstimmung mit einem Teil der sozialwissenschaftlichen Literatur kein am 25. April 1974 abgeschlossenes Ereignis, sondern eine prozesshafte Entwicklung gemeint ist. 2
Den zeitlichen Rahmen der Arbeit bilden die letzten Monate der VI. Provisorischen Regierung 1976 und der Antritt der konservativen Minderheitsregierung Cavaco Silva Ende 1985. Dieses Datum markiert das Hinzutreten neuer, noch nicht vollständig erfassbarer Momente in der Auseinandersetzung um die Agrarreform: Zum einen erstarkten die von Cavaco Silva geführten konservativen Sozialdemokraten innerhalb kurzer Zeit derart, dass sie seit Juli 1987 erstmals mit absoluter Mehrheit regieren konnten. Die politischen Folgen für die Agrarreform werden aber frühestens nach Ablauf des Jahres 1988 – nach Inkrafttreten des neuen Agrarreformgesetzes und der neuen Verfassung – voll sichtbar werden.
Zum anderen wurde Portugal 1986 Mitglied der EG; ein Schritt mit bedeutenden und zum Teil noch unübersehbaren Konsequenzen nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die gesamte Gesellschaft.
Im zweiten Kapitel wird der Versuch unternommen, die Bedeutung von Agrarreformen aus einer “entwicklungsstrategischen” Perspektive zu klären, um die portugiesische Agrarreform in einen allge-meineren Rahmen einordnen zu können. Dem schließt sich ein kurzer Überblick über die Agrarstruktur im vorrevolutionären Portugal und in der späteren Agrarreformzone an, aus der die Protagonisten der Agrarreform nicht nur deren Notwendigkeit ableiteten, sondern auch einige ihrer zum Teil heftig umstrittenen spezifischen Merkmale.
Eine Darstellung politischer Ereignisse und legislativer Maßnahmen der Jahre 1974 und 1975 erscheint nur dort möglich und sinnvoll, wo diese selbst zum Gegenstand späterer Auseinandersetzungen wurden
Das dritte Kapitel beschreibt den Charakter der neu entstandenen Kollektivgüter und Kooperativen.
Von zentraler Bedeutung für das Thema sind die in den Kapiteln vier, fünf und sechs dargestellten Veränderungen der Agrarreformgesetzgebung, die die Auseinandersetzungen der folgenden Jahre entscheidend mitbestimmten. Gleichzeitig wird versucht, die Positionen der wichtigsten politischen Parteien zur Agrarreform darzulegen.
Gegenstand des siebten Kapitels ist die praktische Anwendung des Agrarreformgesetzes durch konservativ-bürgerliche und sozial-demokratische Regierungen bis 1985.
Im achten Kapitel schließlich soll ein Ansatz zur Beantwortung der Frage gefunden werden, in welcher Weise die Auseinandersetzungen um die Agrarreform auf den Reformsektor unmittelbar zurückgewirkt haben, ob ursprüngliche Zielsetzungen von “Anhängern” der sozialistischen Agrarreform erreicht werden konnten oder ob sich Ziele ihrer “Gegner” realisieren ließen und inwieweit man schließlich von einer Restaurierung vorrevolutionärer Eigentumsverhältnisse sprechen kann.
Die Auswertung allein der deutschsprachigen Literatur über die Agrarreform Portugals hätte keine ausreichende Grundlage für eine befriedigende Bearbeitung des Themas dargestellt, so dass eine Heranziehung der erreichbaren portugiesischen Literatur unumgänglich war.
Unter den vom “Arbeitskreis sozialwissenschaftliche Forschung über Spanien und Portugal” 1985 ermittelten 64 Personen, die sich in Publizistik und Forschung der Bundesrepublik mit Portugal beschäftigten, befanden sich nur zwölf Politologen, Soziologen und Geographen, die zum Schwerpunkt ihrer Arbeit die Provinz Alentejo oder die Agrarreform gewählt hatten.3 Agrarreforminteressierte in der Bundesrepublik sind im wesentlichen auf die Veröffentlichungen von Borowczak, Vester und Jüngst4 angewiesen.
Der Zeitraum 1981 bis 1985 aber ist bisher weder in der deutschen noch in der portugiesischen Literatur systematisch erfasst worden. Es gibt nach wie vor keinen Gesamtüberblick über die bisherige Geschichte der Agrarreform. Für die Agrarreform entscheidend waren die Jahre 1977 bis 1980/ 81, die auch den Schwerpunkt der meisten Veröffentlichungen bilden.
Anmerkungen:
1 Nach der Theorie des Korporativismus sind die Interessen von Unternehmern und Beschäftigten nicht antagonistisch, sondern sie ergänzen sich. In den staatlich organisierten Korporationen werden die Partner zusammengeschlossen und es wird für einen Interessenausgleich gesorgt, so dass sich die Betriebe entwickeln und die Wirtschaft floriert.- In Anlehnung an Marcelino Passos wird der Korporativismus hier nicht als selbständige Herrschaftsform (“korporativistischer Staat“) begriffen, sondern als Bestandteil faschistischer Herrschaft. Als faschistische und nicht korporativistische Diktatur bezeichnen auch einige portugiesische Parteien (PS, PCP) und deren Repräsentanten (Soares, Cunhal u.a.) sowie Sozialwissenschaftler ”unterschiedlicher Provenienz” das alte Regime, worauf ebenfalls Passos hinweist. Vgl Marcelino Passos, Der Niedergang des Faschismus in Portugal: Zum Verhältnis von Ökonomie, Gesellschaft und Staat / Politik in einem europäischen Schwellenland (Diss.1985 – Marburg 1987), S.69 ff.
2 Für E.Rosa besteht die Aprilrevolution aus einer militärischen Erhebung, der eine Volkserhebung folgte. Vgl. Eugénio Rosa, A Reforma Agrária em Perigo (Lisboa 1977), S.33.- Ahnlich argumentiert Passos, der den 25. April als antifaschistisch-demokratische Revolution, als den “Ausgangspunkt einer mächtigen, in ihrem Ausmaß unerwarteten Eruption sozialer Bewegungen” (Passos, a.a.O., S.484) bezeichnet.
3 Vgl. Arbeitskreis sozialwissenschaftliche Forschung über Spanien und Portugal, Spanien / Portugal-Informationen Nr.2 / November 1985 (Manuskript, Frankfurt 1985)
4 Gemeint sind hier vor allem: Winfried Borowczak, Agrarreform als sozialer Prozeß. Studien zum Agrarreformverhalten landwirtschaftlicher Produzenten in Portugal und Kap Verde, Bd.36, Bielefelder Studien zur Entwicklungssoziologie. Hg. Hans-Dieter Evers u.a. (Saarbrücken / Fort Lauderdale 1987}.- Michael Vester, Fritz von Wedel, Karl Heisel, Wolfgang Sieber (Hg.), Die vergessene Revolution. Sieben Jahre Agrarkooperativen in Portugal (Frankfurt/ M. 1982).- Peter Jüngst / Volker Jülich. Die portugiesische Agrarreform – Verlauf, regionale und ökonomisch-soziale Strukturen und Prozesse, Rahmenbedingungen, in: Jüngst, P. (Hg.), Portugal nach 1974: Regionale Strukturen und Prozesse, Bd.2, S.8-231 (Kassel 1982)