
50 Jahre Nelkenrevolution ■ Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel” Serie und ein wissenschaftlich, historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone”. Teil IV
Von Martin Leo
2.2 Die Bedeutung der portugiesischen Landwirtschaft vor 1974
Das Land Portugal wies spätestens seit den neunzenhundertsechziger Jahren viele Merkmale auf, die es deutlich als Schwellenland charakterisierten
Zwar waren 1973 noch immer 28,8% der aktiven Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt20, die nur 17,4% des Bruttoinlandprodukts (BIP) erbrachte21, doch hatte die verarbeitende Industrie zwischen 1964 und 1974 mit 8,8% ein hohes jährliches Durchschnittswachstum aufzuweisen.22 Das Durchschnittswachstum der Gesamtwirtschaft lag bei 6,8%.23
Innerhalb der industriellen Produktion verschoben sich die Gewichte zugunsten einer modernen und in geringerem Maße als bei Entwicklungsländern24 exportorientierten Fabrikation von Halbfabrikaten oder von Fertigfabrikaten für den eigenen Markt25, während die traditionelle Produktion (beispielsweise Fischkonserven und Korkerzeugnisse, Holz und Papier) zwar nach wie vor von großer, aber zurückgehender Bedeutung war.
Die „tiefgreifende Modernisierung”26 in Teilen des Industrie- und Dienstleistungssektors, begleitet von einer kapitalistischen Expansion mit „nie gesehenem industriellen Wachstum”27, hatte Portugal unbestreitbar entwickelt, aber auch abhängiger gemacht.
Die Position ausländischen Kapitals war in einigen Industriebranchen besonders nach Öffnung des wegen der Niedriglöhne besonders interessanten portugiesischen Markts28 für ausländischen Kapitalexport ab Mitte der sechziger Jahre stark. Andererseits investierte Auslandskapital doch fast gar nicht in die portugiesische Landwirtschaft, was diese vom Agrarsektor vieler Entwicklungsländer unterschied. Der wesentliche Grund hierfür mochte gewesen sein, dass ausländische Unternehmen in diesem Sektor keine staatliche Unterstützung zu erwarten hatten.29
An der Erhöhung des Nationalprodukts hatte die Landwirtschaft, die zwischen 1960 und 1970 nur ein jährliches Wachstum von 1,5% (1970-1973: 0,7%) erzielte, einen außerordentlich geringen Anteil.30 Gemessen an Preisen von 1963 war der Wert der Produktion 1973 niedriger als 1968.31
Barreto errechnet auf der Grundlage konstanter Preise von 1953 für den Zeitraum bis 1973 ein jährliches Wachstum des Bruttoagrarprodukts von 0,5%, wobei die Vieh- und Forstwirtschaft etwas rascher wuchs, die Pflanzenproduktion aber stagnierte oder sank.32
Es wundert daher nicht, wenn verschiedene Autoren – angefangen bei dem Rechtsextremen F.A. Gonçalves Ferreira über die Verfasser der Weltbankstudie bis hin zu dem der Gewerkschaftszentrale CGTP-IN zuzurechnenden Eugénio Rosa für die Zustandsbeschreibung der Landwirtschaft vor 1974 den Begriff „Stagnation” verwenden.33 Wichtige Ursachen für den Stillstand waren die mangelnde Kapitalausstattung der Betriebe und der geringe Umfang der Investitionen.34
Der Kiloverbrauch an Kunstdünger pro Hektar war niedriger als in Spanien, Jugoslawien oder Griechenland35; die Produktivität landwirtschaftlicher Arbeit stieg zwischen 1957 und 1967 mit 32% weit langsamer als in anderen europäischen Ländern (BRD 73%, Frankreich 75%, Niederlande 78%, Belgien 64%, Italien 65%).36 Obwohl die Ausstattung mit Traktoren zwischen 1953 und 1966 um über 600% zugenommen hatte37, blieb der Maschinenbestand wegen der bescheidenen Ausgangslage unzureichend.38
Die Stagnation des Agrarsektors begleitete ein Exodus der Landbevölkerung: Eine halbe Million Menschen verließ den Sektor zwischen 1950 und 1970
Der Anteil der in der Landwirtschaft Aktiven sank von 51% auf 32%.39 Während Lissabon und Porto wuchsen, entvölkerten sich ländliche Distrikte. Regionale demographische und ökonomische Ungleichgewichte verstärkten sich als Folge der Krise des Agrarsektors, der jedoch durch den Abzug von Arbeitskräften weder eine Modernisierung noch eine Produktivitätssteigerung erfuhr.40
Nur in geringem Maße war die portugiesische Industrie in der Lage, diese Arbeitskräfte zu absorbieren; zwei Drittel emigrierten.41 So war diese Entwicklung nicht Ausdruck „der Umschichtung zwischen den Sektoren im gesamtwirtschaftlichen Wachstum, sondern der sich verschlechternden Existenzbedingungen auf dem Lande infolge der Rückständigkeit der Landwirtschaft…”42
Die niedrige Leistungskraft des Sektors führte dazu, dass die landwirtschaftlichen Durchschnittslöhne, die 1965 noch 65% des nationalen Durchschnitts ausmachten, 1973 nur noch 56% dieses Werts erreichten.43
Den Nahrungsmittelbedarf konnte die Landwirtschaft in immer geringerem Maße decken. Die unzureichende Produktion pflanzlicher und tierischer Produkte führte zwischen 1970 und 1974 zu einer Steigerung der Agrarimporte von 5,5 Millionen Contos auf 16,5 Millionen Contos (l Cto.=1.000 Escudos).44
Die Selbstversorgungsrate betrug bei Getreide 1974 nur noch 48,1%45; insgesamt stieg die Deckungsrate des Konsums durch Importe bei Fleisch, Getreide, Kartoffeln und Zucker zwischen 1969 und 1974 von 18,3% auf 33,6%46. Insbesondere wachsender Getreideimport wird allgemein als Indiz für eine rückläufige Entwicklung der Landwirtschaft betrachtet.47
Obwohl einige mit der Industrie verbundene Produktionszweige (Tomatenderivate, Holz und Papier) expandierten, wurde Portugal 1974 zum Nettoimporteur von Lebensmitteln und Landwirtschafts-erzeugnissen.48 Diese Importe machten 1973 bereits 14,5% des portugiesischen Handelsbilanzdefizits aus.49
Die Landwirtschaft war immer mehr zur Bremse der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes geworden. Sie konnte weder einen Markt für die restlichen Sektoren darstellen noch den Bedarf von Industrie und Bevölkerung an Rohstoffen und Grundnahrungsmitteln befriedigen.
Der Industrie hatten „starke Wachstumsimpulse aus einer dynamischen Landwirtschaft”50 gefehlt. Hatte sich das landwirtschaftliche Wachstum Ende des vergangenen Jahrhunderts wegen des unzureichenden industriellen Wachstums noch auf den Export stützen müssen, war es nun umgekehrt: Einer wachsenden, teilweise ebenfalls exportgestützten Industrie fehlte eine gesunde Landwirtschaft, da notwendige Strukturveränderungen dort ausgeblieben waren.51
Die insbesondere in die Amtszeit Caetanos fallenden Versuche, die Exporte zu fördern und Importe zu ersetzen, scheiterten an der Agrarkrise und an der strukturellen Unmöglichkeit, sie zu überwinden.52 Die Hoffnung, die Industrie würde die Landwirtschaft gewissermaßen „mitreißen“ und der Staat brauche nur Kleinbetriebe fallen zu lassen und moderne Betriebe zu fördern53, erfüllte sich nicht. Die landwirtschaftlichen Produzenten wurden durch die Eigentumsverhältnisse entweder an einer Produktionssteigerung gehindert oder die Landeigentümer waren an ihr nicht interessiert.
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[…] Stellenwert des Agrarsektors | sagt: 4. Juni 2023 um 16:43 Uhr […]