Rolle der Latifundien im Alentejo/Ribatejo

© Martin Leo

50 Jahre Nelkenrevolution Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel” Serie und ein wissenschaftlich,  historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone”. Teil VI

Von Martin Leo

2.4 Die Rolle der Latifundien in der Region Alentejo/Ribatejo

War Jahrhunderte lang die Viehhaltung wichtigste ökonomische Aktivität im Alentejo, so hatte mit der Industrialisierung und dem Wachstum der großen Städte seine Bedeutung als Kornkammer zugenommen.79

An die Stelle der adligen Grundherrschaft war in Portugal Mitte des 19. Jahrhunderts die Bourgeoisie getreten, die sich allmählich auch des die kleinbäuerlichen Subsistenzwirtschaften ergänzenden Gemeindelandes bemächtigte, was einerseits zur Proletarisierung und andererseits zur Entstehung und Festigung von Latifundien wirtschaften beitrug.80 Anfang des vergangenen Jahrhunderts waren bereits 46% der Landbevölkerung Landarbeiter.81 Das „campesinato”82 war schon zu Beginn dieses Jahrhunderts wenig zahlreich und ohne Macht.

Das „lei dos cereais” (Getreidegesetz) von 1899 stärkte die Position der Latifundisten, indem es sie vor ausländischer Konkurrenz schützte.83 Ihr Interesse bestand darin, die Einfuhr billigeren Weizens zu verhindern. Dies war nur möglich, wenn sie entsprechenden Druck auf die Zentralregierung ausüben konnten.84 In der I.Republik (1910-1926) spielten sie als „grupo de pressão” (Barreto) eine wesentliche Rolle innerhalb der republikfeindlichen „Vereinigung ökonomischer Interessen” (UIE), eines Unternehmerverbands.85

Den allseitigen politischen und ökonomischen Schutz des Staats erhielten die Latifundisten dann in Salazars „Estado Novo”. Vereint mit Unternehmern, Militär und Kirche bildeten sie seine soziale Interessenbasis86 und bis zum Ende des Regimes als Bestandteil der „konservativ-reaktionären Fraktion”87 eine seiner Säulen.

Der Faschismus sicherte das latifundistische Bodenbesitzmonopol und zugleich schützte er die Preise für die Erzeugnisse des Latifundiums. Das gewaltsame Niederhalten einer bereits in der I. Republik aufbegehrenden Landarbeiterschaft88 hielt die Löhne stets auf einem extrem niedrigen Niveau.

Das Nichtvorhandensein anderer ökonomischer Aktivitäten im Alentejo, das weitgehende Fehlen von Industrie und damit alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten waren Voraussetzungen für ein Angebot überschüssiger und billiger Arbeitskräfte.89 Es waren zugleich Garantien für die Aufrechterhaltung eines Systems, in dem die Betriebe nicht durch Wettbewerb zu Investitionen und höherer Produktivität gezwungen waren, sondern in dem die Eigentümer sich darauf beschränken konnten, mit geringstem Aufwand auf Basis von Verpachtung der schlechteren Böden an Saisonpächter und von Lohnarbeit auf den besten Böden90 bei extensiver Bewirtschaftung91 Gewinne zu erzielen, die ihren hohen Lebensstandard sicherten. Kapital wurde kaum reinvestiert, sondern es wurde dem Agrarsektor entzogen, indem es in städtischen Immobilien, in Bankgeschäften und im Handel, später auch in der Industrie angelegt wurde.92

Mit Spekulation und Luxuskonsum verschwendete die Agrarbourgeoisie „einen Teil des potentiellen Akkumulations-fonds.”93

Für die Latifundisten war der Boden der wichtigste Produktionsfaktor94; durch die enorme Größe des Besitzes konnten auch niedrige Hektarerträge ein hohes Einkommen garantieren.95 Produktionssteigerung durch Düngung und Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, durch Bewässerung und Maschineneinsatz, durch besseres Saatgut und mehr Arbeitskräfte – eine intensive, Investitionen voraussetzende Landwirtschaft – war nicht das Ziel der Großgrundbesitzer. Sie bevorzugten das lange Brachliegen von Böden zur Wiederherstellung der Fruchtbarkeit.96 Es reichte, dass der Kork – „Korkeichen liefern unter den Pflanzen dieses Klimabereichs die höchsten Hektarerträge”97 – ansehnliche Gewinne brachte.

Die Wälder des Alentejo mit ihren Schirmkiefern, Kork- und Steineichen machten 38% des portugiesischen Waldbestands aus.98 Sie wurden auch für die extensive Viehhaltung genutzt; die Schweine ernährten sich von den Eicheln.99

Schafe wurden nicht für die bei einigen Rassen ergiebige Milchproduktion gehalten, sondern wegen ihrer mehr der extensiven Produktion entsprechenden Wolle.100 Beschäftigungslosigkeit und Unterbeschäftigung waren, wie es Feder für die lateinamerikanischen Latifundien feststellt101, die Folgen auch der portugiesischen Latifundienwirtschaft. Die Gesamtproduktivität der latifundistischen Betriebe lag wegen der niedrigen Bodenproduktivität weit unter dem landesüblichen Niveau.102 So betrug die Bodenproduktivität in den Distrikten Beja, Évora und Portalegre nur ein Drittel des landesweiten Durchschnitts.103 Die vom Latifundium abhängigen kleinen Pächter scheuten das Risiko von Investitionen; die Folge war ebenfalls niedrige Bodenproduktivität.104

Andererseits war die Arbeitsproduktivität (Wert der Produktion eines Arbeiters in einem Jahr) im Ergebnis eines höheren Mechanisierungsgrades in der Latifundienregion größer als im Rest des Landes.105 Die Mechanisierung trug aber unter den Bedingungen des latifundistischen Produktionssystems nicht zur Intensivierung der Landwirtschaft bei106, sondern war fast immer nur eine Antwort auf von den Arbeitern erkämpfte Lohnerhöhungen107 oder auf eine relative Verknappung von Arbeitskräften infolge der von den Latifundisten ungern gesehenen Emigration und des seit Beginn der sechziger Jahre (Kolonialkrieg) gestiegenen Personalbedarfs des Heeres.108

Die oft absentistischen Großgrundbesitzer betrieben aber nur auf einem Teil ihrer Güter landwirtschaftliche Produktion

Bezogen auf jeweils tausend Hektar verwendeten sie 1968 weitaus weniger Traktoren als die Betriebe unter 20 ha und weitaus weniger Kunstdünger als die Betriebe unter vier Hektar.109

Die beträchtliche Reduzierung kultivierten Landes besonders in den letzten zehn Jahren der Diktatur führte die Weltbank auf die Verringerung der Getreideanbauflächen und die Ausdehnung von Brachland zurück.110 In den Distrikten Beja, Évora und Portalegre betraf das 700.000 Hektar Acker- und Weideland.111 Dreihundertfünfzigtausend Hektar dienten als Jagdgehege für Bankiers, Industrielle und Politiker des Regimes, die dort Rebhühner und Hasen jagten.112 Insgesamt blieben 1968 in der Latifundienzone eine Million Hektar unbebaut.113

Die Masse der Landarbeiter – die Angaben schwanken zwischen 65% und 90%114 – bestand aus „eventuais“, d.h. aus Gelegenheits- oder Saisonarbeitern, die oft nur wenige Monate im Jahr Arbeit fanden und nach Barros das „typischste“ Produkt des „latifundistischen Kapitalismus”115 darstellten. Die „permanentes“ hingegen waren oft höher qualifiziert und in gewisser Weise auch materiell bessergestellt.116

Die Art der angebauten Kulturen bestimmte das Maß der Verteilung der Arbeit über das Jahr. Landarbeiter kamen auf 120 bis 150 Tage. Gearbeitet wurde gewöhnlich im Frühling, Anfang Sommer und an einigen Wintertagen.117 Die im Latifundium gezahlten Löhne gehörten zu den niedrigsten Einkommen der portugiesischen Landwirtschaft.118 Lohnerhöhungen und der Kampf um Arbeitsplätze hatten daher immer im Mittelpunkt der Klassenauseinandersetzungen gestanden.119

Noch 1973 betrug der durchschnittliche Tageslohn für Männer etwa acht Mark, für Frauen wenig mehr als die Hälfte.120

Ernährung, Wohnverhältnisse, medizinische Versorgung und Alphabetisierungsgrad machten die Region auch im innerportugiesischen Vergleich zu einem sozialen Notstandsgebiet.121 Es gab noch in den sechziger und siebziger Jahren Großgrundbesitzer, denen ganze Dörfer gehörten und die innerhalb der Grenzen ihres Latifundiums eine eigene Gerichtsbarkeit – mit privaten Karzern zur Disziplinierung der Arbeiter – ausübten.122

Die erzreaktionäre, fortschrittsfeindliche Haltung vieler Großagrarier diente daher zumindest unterschwellig oft als Erklärung für ihr innovationsfeindliches unternehmerisches Verhalten. Wenn sie es jedoch vorzogen, ihr Kapital statt in die Landwirtschaft in den sich modernisierenden Industrie- und Dienstleistungssektor zu investieren123, so versuchten sie damit lediglich, die vom Staat gebo-tenen Verwertungsbedingungen optimal zu nutzen. Die unmittelbare Folge dieser Beteiligung an der Industriemodernisierung war dann die Unterkapitalisierung der Landwirtschaft.

Aus der Beteiligung an Bank- und Industriegeschäften ergab sich aber auch eine Annäherung der Interessen von Industrie- und Bankkapital an die des ländlichen Großbesitzes. Viele Großagrarier finanzierten ihre Geschäfte beispielsweise über Hypotheken, die sie auf ihren Grundbesitz aufnahmen. In den letzten vier Jahren der Diktatur waren 92% der in Portugal aufgenommenen Grundstückshypotheken auf die Latifundisten entfallen.124

Auf diese Weise aber wurden die Banken indirekt zu Landbesitzern; d.h. sie verbanden sich mit einer Institution, die „in sich selbst die Negation der Intensivierung der Landwirtschaft”125 darstellte und wegen der fehlenden intensiven Kapitalnutzung nur ein Hindernis auf dem Wege zum modernen kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieb war. Starke Finanzgruppen (de Melo, Champalimaud, Espírito Santo und das Immobilien- und Touristikunternehmen Torralta) hatten sich auch direkt eines Teils der Böden des Alentejo und Ribatejo bemächtigt.126

Gleichzeitig bildete sich dennoch vor allem in Zusammenhang mit der Verpachtung oder dem Verkauf größerer, Anfang der sechziger Jahre bewässerter Gebiete127 „eine Gruppe von ein paar Dutzend modernen ‚Agrarkapitalisten‘”128 heraus, die mit der verarbeitenden Industrie verbunden war. Diese modernen kapitalistischen Betriebe waren zwar auch 1974 noch in der Minderheit, hatten aber an Bedeutung zugenommen129 und einen politischen Machtverfall des traditionellen Großgrundbesitzes mit eingeleitet.130

Am 25.April 1974 hatten die Agrarkapitalisten bereits die traditionellen Großgrundbesitzer als „dominierende soziale Gruppe”131 auf dem Lande ersetzt, aber das „Kernproblem der extrem ungleichen Verteilung des Reichtums”132 war ungelöst geblieben.

Zum Inhaltsverzeichnis des Buches.

Anmerkungen:
79 Vgl. Bica, a.a.O., S.6
80 Vgl. Borowczak, a.a.O., S.53 f
81 Vgl. Passos, a.a.O., S.14
82 Unter diesem Begriff werden kleine und mittlere landwirtschaftliche Produzenten zusammengefasst.
83 Vgl. Borowczak, a.a.O., S.59
84 Vgl. Barreto, a.a.0., S.21
85 Vgl. Passos, a.a.O., S.43 f.
86 Vgl. Barreto, a.a.O., S.23
87 Passos, a.a.0., S.406
88 Vgl. hierzu José Pacheco Pereira, Conflitos sociais nos campos do Sul de Portugal (Lisboa 1983), S.21-125
89 Vgl. Hanke, a.a.O., S.5; vgl. Carlos Amaro, O aumento da produção agrícola e apoio à Reforma Agrária. Factores decisivos do desenvolvimento do Alentejo, in: EC Economia , Nr.68, 12.Jg. (1987), S.31 ff. (S.35)
90 Vgl. A. de Barros, a.a.O.,S.31
91 „Extensiv“ meint nach Vester „niedrige Flächenproduktivitäten …durch zu geringen Einsatz von fixen und variablen Faktoren“.- Michael Vester / Afonso de Barros, Forschungsprojekt. Die Agrarreform und das Problem ländlicher Entwicklung in Südportugal (unveröffentl. Manuskript, Hannover / Lissabon 1985), S.10
92 Vgl.Jüngst / Jülich, a.a.O., S.25; vgl. Optenhögel, a.a.O., S.36; vgl. Passos, a.a.O., S.126
93 Baumgärtner, a.a.O., S.217
94 Vgl. Bica, a.a.O., S.6
95 Entsprechendes stellt Feder für die lateinamerikanischen Latifundien fest: „Die Gesamtgewinne können immer noch recht beträchtlich bleiben, auch wenn die Hektarerträge schon sehr niedrig sind und weiter abnehmen, solange nur genügend Boden bewirtschaftet wird.“ – Feder, a.a.O., S.100
96 Vgl. Bica, a.a.O., S.6
97 Arbeitsgruppe Portugal im Arbeitsbereich Landwirtschaft (Hg.), Portugal: Der Kampf um die Agrarreform (Stuttgart 1978), S.108 f.
98 Vgl. Victor Louro, Reforma Agrária e Floresta, in: Associação dos Municípios do distrito de Beja (Hg.), Congresso sobre o Alentejo. Semeando novos rumos. Vol.II (Évora 1985), S.741-747 (S. 741)
99 Vgl. António Bica, A Reforna Agrária é irreversível caso a democracia subsista em Portugal, in: Cadernos de o jornal. N.° 4 (Lisboa, Agosto de 1976), S.37 ff. (S.40)
100 Vgl. F.Vieira de Sá , A produção de leite, via de desenvolvimento económico e social do Alentejo, in: Congresso, a.a.O., S.748 ff. (S.755)
101 Vgl. Feder.a.a.O., S.14
102 Vgl. Borowczak, a.a.O., S.62
103 Vgl. Passos, a.a.0., S.136
104 Vgl. Hanke, a.a.O., S.39
105 Vgl. Barreto, a.a.0., S.63
106 Vgl. Vester / Barros, a.a.O., S.11
107 Vgl. Pereira, a.a.O., S.148
108 Vgl. A. de Barros, a.a.O., S.32
109 Vgl. Hanke, a.a.O., S.34
110 Vgl. World Bank (Hg.), a.a.O., S.36
111 Vgl. Passos, a.a.O., S.136; vgl. Winfried Borowczak, Kurze Bilanz der Agrarreform von 1974 bis 1981, in:Vester u.a. (Hg.), Die vergessene Revolution, a.a.0., S.17 ff.(S.18)
112 Vgl. Fernando Oliveira Baptista, Sobre a economia das cooperativas e Unidades Colectivas de Produçao, in:Economia e Socialismo, N.° 41/42 (1979), S.3 ff. (S.4); vgl. Comissão Promotora do Tribunal Cívico sobre a Reforma Agrária (Hg.), A Reforma Agrária acusa (Lisboa 1933), S.28
113 Vgl. Jüngst / Jülich, a.a.O., S.25; vgl. World Bank (Hg.), a.a.O., S.5; vgl. Gerhard Grohs / Eduardo Maia Cadete, Reform und Gegenreform in der portugiesischen Landwirtschaft, in: Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft, Jg.19, Heft 1 (1980), S.67 ff.(S.70)
114 Vgl. Vester / Barros, a.a.0., S.8; vgl. Cordula Stucke, Analyse psychosozialer Aspekte gesellschaftlichen Handels am Beispiel eines Dorfes in Südportugal (unveröffentl. Diplomarbeit, Hamburg 1981), S.6; vgl. Rainer Eisfeld, Sozialistischer Pluralismus in Europa. Ansätze und Scheitern am Beispiel Portugals (Köln 1984), S.83
115 A. de Barros, a.a.0., S.75
116 Vgl. ebenda, S.76
117 Vgl. Barreto, a.a.0., S.43
118 Vgl. ebenda, S.63
119 Vgl. Passos, a.a.0., S.149
120 Vgl. Borowczak, a.a.O., S.71
121 Vester / Barros vergleichen die Problematik des Alentejo mit der ‚‘des italienischen Mezzogiorno und des spanischen Andalusien“.-Vester / Barros, a.a.O., S.5
122 Vgl. Murteira, a.a.O., S.15; vgl. Comissão Promotora…, a.a.O., S.118
123 Vgl. Vester, Sozialismus…, a.a.O., S.412 f.
124 Vgl. Dinis Miranda, A Reforma Agrária – histórica conquista dos trabalhadores, in: EC Economia, Nr.24, 5.Jg. (1979 / 1980), S.50 ff.(S.52)
125 Comissão Promotora (Hg.), a.a.O., S.240
126 Vgl. Murteira, a.a.O., S.15; vgl. Borowczak, a.a.O., S.59
127 Bis 1974 wurden 85000 ha auf Staatskosten bewässert, wovon überwiegend Latifundisten profitierten, die jedoch die Hälfte des Gebiets nicht oder nicht voll nutzten und die andere Hälfte verpachteten. Vgl. World Bank (Hg.), a.a.0., S.194; vgl.Jüngst / Jülich, a.a.0., S.14 f.; vgl. Vester, Sozialismus…, a.a.O., S.413
128 Jüngst / Jülich, a.a.0., S.23; vgl. auch Borowczak, a.a.0., S.60
129 Vgl. Vester / Barros, a.a.O., S.10
130 Vgl. Passos, a.a.0., S.141
131 Baptista, a.a.O., S.4
132 Weber, a.a.O., S.78

Kommentar verfassen