
50 Jahre Nelkenrevolution ■ Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel” Serie und ein wissenschaftlich, historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone”. Teil VII
Von Martin Leo
2.5 Die Agrarreformgesetze von 1975
Die Lösung der Agrarfrage nahm in Portugal Ende 1974/Anfang 1975 durch die ersten von Arbeitern durchgeführten Besetzungen großer Güter und die Agrarreformgesetze des Sommers 1975 revolutionäre Formen an. Den Landarbeitern und den mit ihnen verbundenen sozialen, politischen und militärischen Kräften gelang es, eine radikale Bodenreform als Voraussetzung sozialer Revolution in einer kurzen Periode, in der revolutionäre, auf eine Änderung der sozialen Ordnung zielende Kräfte in Revolutionsrat und Regierung dominierten, gesetzlich zu verankern.
Das Ziel war, die in weiten Teilen des Landes existierenden Latifundien zu beseitigen, die Böden zu nutzen, Arbeit für alle und soziale Gerechtigkeit zu schaffen.133
Die Erhöhung landwirtschaftlicher Produktion und Produktivität im Rahmen einer auf Importsubstitution gerichteten Wirtschaftsstrategie war darüber hinaus eine der von der Streitkräftebewegung (MFA) verfolgten volkswirtschaftlichen Zielsetzungen.134 Nicht aber allein wegen des Antilatifundismus, eines Bestandteils auch bürgerlicher Agrarreformen, waren Landbesetzungen und Gesetze revolutionär zu nennen, sondern weil sie sich wie auch die für sich allein genommen „im Vergleich mit den öffentlichen Sektoren anderer europäischer Länder keineswegs aus dem Rahmen”135 fallenden Nationalisierungen im Banken und Industriesektor vom Frühjahr 1975136 in eine Strategie einpassten, die auf die Kontrolle einer großen Zahl verschiedener Wirtschaftszweige und der Finanzwege für die Planung einer nichtkapitalistischen Entwicklung orientierte.137
Selbst ein Ergebnis des „Drucks der Massen”, die einen „Militärputsch in eine Revolution”138 verwandelt hatten, sollte die Agrarreform doch zugleich auch den Fortgang dieses revolutionären Prozesses sichern, indem sie den „besitzenden Klassen … einen wesentlichen Teil ihrer ökonomischen Macht” und teilweise auch die „politische Macht im Staat”139 nahm. Die die Agrarreform begleitenden und stützenden legislativen Maßnahmen dienten daher nicht nur der Überwindung allein der Latifundienwirtschaft, sondern der Einengung des agrarkapitalistischen Sektors insgesamt.140 Auf diesen Aspekt wies das vom Ministerrat angenommene, Enteignungsgesetz genannte „decreto-lei“ No 406-A/75 vom 29.Juli 1975141 in seiner Präambel hin.
Die Notwendigkeit, den Latifundien und „großen Agrarkapitalisten” die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zu entziehen, ergab sich für die Autoren des Gesetzes daraus, dass sich anderenfalls nicht nur die „Ausbeutung und Ausplünderung” der Landarbeiter und Kleinbauern verlängert, sondern auch die Bedingungen für die „soziale und ideologische Herrschaft” der „während des Faschismus herrschenden sozialen Schicht”142 reproduziert hätten.
Das Gesetz beschränkte sich ausdrücklich darauf, die Normen für die Enteignung bestimmter Böden festzulegen. Es war gerade das – wie einer seiner Kritiker es nennt – „Originelle”143 dieses Agrarreformgesetzes, dass es nur den „allgemeinen Rahmen für den Angriff auf den Großgrundbesitz und die großen agrarkapitalistischen Betriebe” abgeben wollte; für einen Prozess, der ausdrücklich „das Werk der Initiative, der Phantasie, der Organisation und des Kampfes der Landarbeiter und Kleinbauern”144 sein sollte.
Eben in ihre Hände legte dieses Gesetz „absichtlich unvollständigen Charakters”145 die Ausgestaltung der Reform. Weder bei der Festlegung des künftigen juristischen Bodenstatuts noch bei der Herausbildung neuer Organisations- und Produktionsformen sollte staatlicherseits vorgegriffen werden. Damit fand der Partizipationsgedanke als „eigenständiges basic-need”146 der Agrarreform Berücksichtigung.
Ein Punktesystem wurde entwickelt, das die Böden entsprechend der Fruchtbarkeit, Bepflanzung und durchgeführten Verbesserungen und auf Grundlage des katasteramtlichen Nettoertrags bewertete.147 So entsprachen tausend Punkte einem Hektar mittleren Bewässerungslandes mit 2.000 Escudos Ertrag. Enteignet nach Gesetz wurden Flächen, die zusammengenommen mehr als 50.000 Bodenwertpunkte erreichten, also mehr als 50 ha mittleren Bewässerungslandes umfassten oder die – unabhängig von der Punktzahl – größer als 700 ha waren. Enteignet wurde auch, wenn die Besitzer sich Vergehen zuschulden kommen lassen hatten, die bereits im „decreto-lei” 660/74 vom 25.November 1974 definiert worden waren148, oder wenn Eigentum nicht Mindestforderungen an die Bodennutzung (Art.l) entsprochen hatte. Wer nicht den beiden letztgenannten Fällen zuzurechnen war, dem wurde ein Anrecht auf Vorbehaltsland („reserva”) bis zu 50.000 Punkten garantiert, wenn er alle folgenden Bedingungen erfüllte:
Er musste das Land direkt bewirtschaften und den eigenen und den Lebensunterhalt der Familie ausschließlich oder überwiegend aus dieser direkten Landbewirtschaftung bestreiten; er durfte kein anderes Vorbehaltsrecht gleichzeitig wahrnehmen. Das Recht auf Reserveland wurde ausschließlich natürlichen Personen eingeräumt (Art.2).
Das private Eigentumsrecht an diesem Land war aber insofern eingeschränkt, als es nur den „legitimen Erben” übertragen werden konnte
Der Antrag auf Zuteilung einer Bodenreserve musste innerhalb von fünfzehn Tagen nach Erhalt der Enteignungsnachricht gestellt werden. Artikel 5 deutete die Möglichkeit von Entschädigungen auf der Grundlage eines innerhalb von 180 Tagen zu schaffenden Gesetzes an. Artikel 13 übertrug den bereits existierenden „Regionalen Agrarreformzentren” (CRRA)149 unter anderem die Aufgabe, neue „Produktionseinheiten” durch die Koordinierung und Kontrolle der technischen und finanziellen Hilfe zur Bewirtschaftung des enteigneten Landes zu unterstützen und die Reserven festzulegen.
Artikel 15 annullierte alle nach dem 25.April 1974 abgeschlossenen Pacht-, Überlassungs- oder Aufteilungsverträge, die auf eine Verringerung der für eine Enteignung in Frage kommenden Flächen hinausliefen. Die Enteignungen konnten nur nach Erlass jeweiliger Einzelverordnungen Rechtskraft erlangen. Die ersten Enteignungen wurden Mitte September 1975 offiziell angeordnet.150
Im Unterschied dazu sah das Nationalisierungsgesetz „decreto-lei” 407-A/75 vom 30.Juli 1975 keine einzelnen Enteignungsakte vor, sondern erklärte die in den vor allem in den sechziger Jahren mit staatlichen Mitteln bewässerten Gebieten des Alentejo und Ribatejo liegenden Flächen über 50000 Punkte mit sofortiger Wirkung für nationalisiert.151 Die Vergabe von Reserveflächen war unter den gleichen Bedingungen wie im Enteignungsgesetz möglich. Zuständig für die Verwaltung der nationalisierten Böden waren vom Landwirtschaftsministerium eingesetzte und koordinierte „Kommissionen zur vorübergehenden Verwaltung”.152
Insgesamt fielen unter dieses Gesetz 210000 ha Bewässerungsland153; hinzu kamen am 13. November 1975 durch „decreto-lei“ 628 /75 23.000 ha der 1834 gegründeten Aktiengesellschaft „Companhia das Lezírias do Tejo e Sado”.154 Unter den von Nationalisierung betroffenen Betrieben befanden sich auch verschiedene agroindustrielle Großbetriebe.155
Im Ergebnis der Anwendung der Agrarreformgesetze sollte sich die künftige Landwirtschaft Portugals aus nationalisierten Betrieben und neuen Produktionseinheiten auf enteigneten Böden, aus kleinen und mittleren Familienbetrieben und aus agrarkapitalistischen, innerhalb der gesetzlich festgelegten Grenzen wirtschaftenden Betrieben zusammensetzen.
Zum Inhaltsverzeichnis des Buches.
[…] vor der Revolution Teil V 2.4 Die Rolle der Latifundien in der Region Alentejo/Ribatejo Teil VI 2.5 Die Agrarreformgesetze von 1975 Teil […]