
50 Jahre Nelkenrevolution ■ Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel“ Serie und ein wissenschaftlich, historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone“. Teil IX
Von Martin Leo
3.2 Die neuen Produktionseinheiten in der Latifundienzone
In der bis Sommer 1976 amtierenden VI. Provisorischen Regierung unter Admiral José Pinheiro de Azevedo, dem parteilosen Ministerpräsidenten, waren die Sozialistische Partei (PS), die Volksdemokratische Partei (PPD)5 , die Kommunistische Partei (PCP) und Parteilose und Militärs vertreten. Das Amt des Landwirtschaftsministers hatte António Lopes Cardoso, ein Agraringenieur und auf dem linken Flügel der PS angesiedeltes Führungsmitglied dieser Partei.6 Staatssekretär für Agrarstrukturierung war bis Januar 1976 zunächst António Bica7; sein Nachfolger wurde am 21. Januar Vítor Louro.8 Beide hatten das Parteibuch der PCP.
In den von Landbesetzungen und Enteignungen betroffenen Gebieten vor allem des Alentejo und Ribatejo hatten sich bereits vor Antritt dieser letzten Provisorischen Regierung in Form der landwirtschaftlichen Kooperativen (CA) und kollektiven Produktionseinheiten (UCP) neue Betriebsformen und Strukturen herausgebildet, die sich 1976 konsolidierten und größtenteils staatlich anerkannt wurden.9
Zwischen Oktober 1975 und Juli 1976 wurden nach Ausarbeitung der Betriebsstatuten 473 dieser Produktionseinheiten durch Bekanntgabe im „Diário do Governo” legalisiert.10
Auf den rund 1,2 Millionen Hektar, die von den UCP/CA eingenommen wurden, arbeiteten etwa 40.000 „permanentes”.11 Hinzu kamen 30.000 bis 50.000 „eventuais”, Gelegenheitsarbeiter, die bis zu 200 Tagen im Jahr Beschäftigung fanden. Vor den Landbesetzungen waren von den „permanentes” ebenfalls mehr als die Hälfte lediglich Saisonarbeiter gewesen.12
Die erste UCP/CA war vermutlich noch 1974 auf dem Gut „Herdade Mouchão do Inglês” entstanden.13
Obwohl die neuen Produktionseinheiten sich zum Teil selbst „Kooperativen” nannten, hatte ihr Organismus in der Regel nichts zu tun mit traditionellen Kooperativen, in denen sich meist kleinere und mittlere Bauern zusammenschlossen. Waren auch kleinere und mittlere Landwirte und Pächter ebenso wie Maschinenverleiher an Besetzungen und Kooperativgründungen hier und da beteiligt14, so wurden die neuen Einheiten doch in der Hauptsache von Landarbeitern gebildet.
Hatte die Bezeichnung „CA” (Cooperativa Agrícola) zu Beginn noch den Sinn, kleinere Produktionseinheiten mit stärkerer Kleinbauernbeteiligung von größeren „Landarbeiter“-UCP‘s zu unterscheiden, so verwischten sich diese Differenzierungsmerkmale mit der Zeit, wenn auch die flächenmäßig größeren Einheiten häufig die Bezeichnung UCP trugen.15 Die angenommenen Bezeichnungen entsprachen daher nicht immer dem tatsächlichen Organisationstyp, der von der sozialen Zusammensetzung der Beschäftigten und den jeweils politisch dominierenden Kräften mitbeeinflusst wurde.16
Herausragendes Merkmal der neuen Produktionseinheiten war, dass die Landarbeiter die besetzten Güter nicht unter sich aufgeteilt, sondern sich zu kollektiver Bewirtschaftung entschlossen hatten und sich unabhängig von staatlicher Einmischung ihre eigenen autonomen Betriebsleitungen wählten.
Weiteres Charakteristikum war die Zahlung fester Löhne für die Kooperanten. Es gab keine Gewinnverteilung und in den meisten Fällen auch keine private Parzellennutzung.17
Obwohl die Kollektivgüter auf vom Staat enteigneten Böden wirtschafteten, unterschieden sie sich von Staatsgütern durch die demokratische Wahl ihrer Leitungen, die über soziale, ökonomische, technische und administrative Angelegenheiten selbst entschieden und dabei die konkrete Situation der jeweiligen UCP berücksichtigen konnten. Von Kooperativen traditionellen Typs unterschieden sie sich durch die festen Löhne und das Fehlen privaten Bodeneigentums und vom sowjetischen Kolchosmodell durch das Fehlen von Gewinnbeteiligung und Privatparzellen. Die UCP/CA stellten damit eine neue, gewissermaßen spezifisch portugiesische landwirtschaftliche Betriebsorganisation dar. Keineswegs handelte es sich einfach um Kooperativen „nach östlichem Muster.”18
Ihre Prinzipien beinhalteten die Selbstbestimmung der unmittelbaren Produzenten und bedeuteten eine Absage an das Privateigentum an Produktionsmitteln. Organisationsform, ökonomische Logik und politisches Umfeld der neuen kollektiven Produktionseinheiten wurden von latifundistischen Gegnern der Agrarreform, die sich besonders über den Landwirteverband CAP und das rechtsex-treme Demokratisch-Soziale Zentrum (CDS) artikulierten und von Anhängern einer kapitalistischen, auf die Schaffung mittelgroßer privater Agrarbetriebe hinarbeitenden Bodenreform heftig ange- griffen.
In ihren Statuten hatten sich die neuen Produktionseinheiten als Vereinigungen von Landarbeitern, Kleinbauern und anderen Arbeitern definiert, die die Erhöhung der Arbeitsproduktivität anstrebten mit dem Ziel, das Lebensniveau zu heben und neue Produktionsverhältnisse zu entwickeln.19
Vorrangig war zunächst, das durch die Krise der Bauwirtschaft, die Heimkehr von Soldaten und den – im Alentejo allerdings weniger spürbaren – Zustrom von Flüchtlingen aus den ehemaligen Kolonien („retornados”)20 noch verschärfte Beschäftigungsproblem zu lösen. Auch die nach dem 25. April durchgesetzten Lohnerhöhungen21 hatten zur Folge, dass besonders Frauen verstärkt nach Arbeit suchten.22
Dieses wohl schwerwiegendste soziale Problem versuchte man durch die bessere Kultivierung der Böden und durch die Ausweitung der Saatflachen zu lösen:
Ziel war nicht ein Maximum an Gewinn, sondern ein Maximum an Beschäftigung23, wobei der Anteil permanenter Arbeitskräfte erweitert und der der Gelegenheitsarbeit gesenkt werden sollte.24
Tatsächlich erhöhten die neuen Betriebseinheiten die Produktion, sicherten und schufen Arbeitsplätze und verbesserten die Lebensbedingungen; zunächst sanken aber auch die Hektarerträge, was den UCP‘s den nach kapitalistischer Logik gerechtfertigten Vorwurf einbrachte, unrentabel zu wirtschaften.25 Einzelfälle, in denen die Lohnkosten schließlich sogar die Betriebseinnahmen übertrafen, stützten dann die These der Kritiker, die den UCP‘s generell Überbeschäftigung unterstellten.
Ihrer Ansicht nach waren die Betriebe, wie auch Barreto es ausdrückt, „alle überdimensioniert.”26
Tatsächlich hatten die Kollektivgüter den Anbau traditioneller Kulturen (z.B. Weizen) oft auf weniger geeignetes Brachland ausgedehnt, um Arbeitsplätze zu schaffen und durch Produktionserhöhungen kurzfristig finanzielle Mittel zu erhalten, die das Fortbestehen der neuen Betriebe sichern sollten und Voraussetzung waren für Investitionen, auf deren Grundlage schließlich das traditionelle, vom Latifundium übernommene extensive Produktionssystem verlassen werden sollte.27
Bis zum Abschluss der Konsolidierung der neuen Betriebe sollten die UCP‘s den alten Kulturtyp beibehalten, um dann mit der Rekonversion der Kulturen, der Erhöhung der Hektarerträge und der Beschäftigtenzahlen zu beginnen.28 In der Perspektive also sollte die Produktion stärker diversifiziert und den Bodenbedingungen angepasst werden; sie sollte die Arbeitskräfte maximal nutzen und eine Kapitalreproduktion innerhalb kürzester Frist sichern.29
„Unrentabel” war häufig die Intensivierung, wenn sie ohne technische Hilfe und auf eigene Kosten und eigenes Risiko unternommen wurde, doch waren die Arbeiter oft selbst Motoren der Intensivierung und Diversifizierung, da ihnen die Beibehaltung des latifundistischen Bewirtschaftungstyps keine Arbeits- und Einkommensgarantie für das ganze Jahr geben konnte.30
Unter großen persönlichen Opfern – dem häufigeren Verzicht auf Löhne, auf Lohnerhöhungen, auf „Lebensqualität”- sorgten die Kooperanten, die auch die Gewinne am Jahresende in Maschinen, Bewässerungsarbeiten und Installationen investierten, für eine relativ rasche Modernisierung.31 Gleichzeitig hoffte man, auf bereits bewässerten Flächen und durch neue Bewässerungsmaßnahmen intensive Viehzucht und Milchwirtschaft, die besonders arbeitsintensiv ist, betreiben zu können.32 Durch geeignete Düngung wollte man auf bewässerten Flächen die Praxis des Brachlands beenden und Winter- und Sommerkulturen anbauen.33
Für die Weltbank gab es infolgedessen „Gründe zu erwarten, dass die UCP‘s das Land so intensiv nutzen”würden, „wie es die Wasserversorgung und die Produktionsmittel“ erlaubten, nachdem ein „Hindernis der vollen Entwicklung existierender Bewässerungsflächen” nicht mehr länger existierte: die „großen Güter”34. Der Nahrungsmittel verarbeitenden Industrie sollten Entwicklungsmöglichkeiten geboten werden, um die regionale Unterentwicklung abzubauen.35 Vom Staat erwartete man entsprechende Investitionen für Industrie und wissenschaftliche Forschung, vor allem aber auch direkte Investitionen für die Verbesserung der ländlichen Infrastruktur (Kommunikationsmittel, Transportwege, Lagerhäuser, Bewässerung, Strom usw.).36
Die staatlichen Maßnahmen sollten auch den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte von spekulativen Einflüssen befreien und zur Schaffung und Gründung von Aufkauforganisationen beitragen
Die Erzeuger- und Verbraucherpreise sicherten und Lagerung, Erhaltung und Verteilung der Produkte kontrollierten.37 Für den kollektiven Sektor der Landwirtschaft waren „Mitarbeit” und „Verständnis” der die Zentralregierung tragenden politischen Kräfte Voraussetzungen, um in kürzester Frist größtmögliche Resultate zu erzielen.38
Dass die UCP‘s eine bestimmte und oft umstrittene Größe erreichten39 – die Betriebsflächen entsprachen im Distrikt Évora etwa denen des alten Betriebs, waren aber in Beja und Portalegre, wo die UCP‘s oft eine ganze Gemeinde umfassten, weit größer als die der ehemaligen Landgüter („Herdades”)40 – war überwiegend auf die ererbten und nur mittelfristig veränderbaren Strukturen der Latifundienregion zurückzuführen.
Einwände gegen diese bis zur Verdopplung der durchschnittlichen Betriebsflächen führenden Erweiterungen gründeten sich vor allem darauf, dass auf diese Weise eine traditionelle Charakteristik der Betriebe in den Latifundiendistrikten verschärft worden war.41 Es wurde befürchtet, dass eine Überdimensionierung Probleme der Leitung, Organisation, Planung und Finanzierung der Arbeit aufwerfen und Teilnahmemöglichkeiten der Arbeiter an Entscheidungen einengen konnte.42
Die Zusammenfassung verschiedener „Herdades” schien aber insbesondere bei Aufrechterhaltung des Sozialismus-Postulats insofern geboten, als einige Güter nur über schlechte Böden verfügten und andere vor der Besetzung weder mit Vieh noch mit Maschinen ausgestattet waren. Eine Annäherung der Lebensverhältnisse erforderte hier einen Ausgleich, der durch Zusammenlegung geschaffen werden sollte.43
Die kleineren Betriebe hätten die zur Arbeitskräfteabsorbierung notwendige Produktionsdiversifizierung vermutlich viel schwerer realisieren und durchsetzen können
Diese hätten über weniger Kapital verfügt und auch einen rationellen Einsatz der wenigen höher qualifizierten landwirtschaftlichen Fachkräfte behindert. Bereits bei der Buchhaltung hatte sich dieses Problem selbst bei größeren UCP‘s gezeigt, weil geeignetes Perso-nal schwer zu beschaffen war.44
Der Gefahr einer durch Zentralisierung begünstigten Einengung demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten an der Kooperativleitung versuchte man dadurch zu begegnen, dass man den einzelnen „Herdades” Autonomie in der Betriebsführung gewährte. Zwar wurde der jährliche Plan einheitlich für die gesamte UCP gemeinsam von der Direktion und dem Finanzrat erstellt und von der Generalversammlung der Kooperanten diskutiert und beschlossen, seine Umsetzung oblag aber allein der aus der jeweiligen „Herdade” hervorgegangenen gewählten Direktivkommission.45
Zum Inhaltsverzeichnis des Buches.
[…] Agrarreform 1976 3.1 Das politische Kräfteverhältnis nach dem 25. November 1975 Teil VIII 3.2 Die neuen Produktionseinheiten in der Latifundienzone Teil IX 3.3 Die Landarbeiter und die „freiwillige Kollektivierung” Teil […]