
Naher Osten ■ Inwieweit sind wir anders als unsere Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern?
Diese Frage stellte sich Martin Leo und kommentiert am 15. Oktober 2023
Besonders in Deutschland begab man sich schon immer in ein gefährliches Minenfeld, wenn man auch nur entfernt Vergleiche anstellen wollte zwischen der faschistischen Vernichtungspolitik der Nazis insbesondere gegen Juden, Roma & Sinti und slavische Völker sowie gegen Andersdenkende einerseits und den Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien israelischer Rechtsextremer gegenüber den Palästinensern andererseits. Dafür gab es immer gute Gründe.
Vergleiche mit Verbrechen, die diese einmalige Bösartigkeit des deutschen Faschismus weder in ihrem Ausmaß, in ihrer Systematik und Perfektion noch im niedrigen Niveau ihrer ideologischen Motivation erreichen, führen zwangsläufig zur Relativierung dieses Massenmords und damit zu seiner Verharmlosung. Trotzdem bleiben die Vergleichsgegenstände schwere Verbrechen.
Heute haben wir mit den Verbrechen israelischer Faschisten gegen die Zivilbevölkerung von Gaza allerdings einen Zustand erreicht, der genannte Abstände zum deutschen Faschismus immer weiter in Frage stellt.
Vergleiche mit den Naziverbrechen gegen das belagerte und ausgehungerte Leningrad, die ein Massensterben verursachten oder mit den in Ghettos eingepferchten und der Vernichtung entgegen sehenden jüdischen Menschen drängen sich auf. Sie nicht anzustellen kann sogar bedeuten, die aktuellen Handlungen israelischer Extremisten zu decken und zu verharmlosen.
Tabuisierung und Verbot von Vergleichen können bei Missbrauch auch das Gegenteil von dem bewirken, das einst beabsichtigt war
Es kann begünstigen, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit in außerordentlicher Dimension wiederholen, ohne dass sich die Verantwortlichen dem gleichen Urteil stellen müssen.
Wenn die faschistischen Naziverbrechen der Vergangenheit die Maßeinheit sind für heutige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, überlassen wir es dann ausgerechnet den Tätern von heute zu beurteilen, inwieweit sie dieses Maß erfüllt haben?
Wer die Dimensionen der aktuellen Verbrechen gegen die Gaza-Bevölkerung nicht erkennen will, obwohl er sie sehen kann, unterscheidet der sich von unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern? Und haben wir heute nicht viel bessere und konkretere Informationen über fortgesetzte Verbrechen der korrupten Machthaber in Israel? Wer früher Informationen einholte und nachdachte, riskierte sein Leben. Wer das heute tut, riskiert im Vergleich dazu – noch – nichts.
Oder haben die Organisatoren des Gaza-Völkermords durch Einsperren, Aushungern und Verdursten bei gleichzeitigen unablässigen Bombardements es geschafft, dass auch wir dieses verfolgte palästinensische Volk von Gaza für schuldig halten?
Wofür? Für den juristisch gedeckten Widerstand gegen eine völkerrechtswidrige Dauerbesetzung palästinensischen Bodens? Für die Tatsache, dass Gruppen wie Hamas inzwischen die verbrecherischen Kampfmethoden ihrer israelischen Lehrherren übernommen haben? Die Palästinenser sind so lange geschlagen worden, bis einige von ihnen schuldig wurden.
Was rechtfertigt, dass wir die fatalen Solidaritätsbekundungen unserer eigenen politischen Führungen zur faschistischen Besatzungspolitik Israels mit Schweigen oder sogar Zustimmung quittieren?
Selbst israelische Bürger finden längst klare Worte für <Politkarste, welche ihr Land regiert.
Es ist bekannt, dass die Hamas ihre militärischen Strukturen in unterirdische Bauwerke verlegt hat. Israel weiß das und bombardiert dennoch ganze Wohnviertel.
Ausgerechnet im Moment der schlimmsten Bombardierung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens hält ein deutscher “Vizekanzler” die Zeit für gekommen, uns allen ein Bekenntnis zu Netanjahus Israel aufzunötigen:
“Jetzt ist die Zeit für das klare und unverrückbare Bekenntnis. Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson.”
Die Politik der militaristischen Führung Israels gefährdet dessen Sicherheit. Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant bezeichnete Palästinenser als “menschliche Tiere”. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nannte sie “menschliche Bestien”.
Der bekannte Publizist Chris Hedges schrieb:
“Das israelische Knessetmitglied Tally Gotliv schlug vor, ‘Weltuntergangswaffen’ auf Gaza abzuwerfen, was weithin als Aufruf zu einem Atomschlag verstanden wird.”
Der israelische Staatspräsident Isaac Herzog habe Aufrufe zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung mit den Worten zurückgewiesen. “Es ist eine ganze Nation da draußen, die dafür verantwortlich ist … diese Rhetorik über Zivilisten, die nichts wissen, die nicht involviert sind, das ist absolut nicht wahr (….) Sie hätten sich erheben können, sie hätten gegen dieses böse Regime kämpfen können, das den Gazastreifen durch einen Staatsstreich übernommen hat. (…) Wir werden ihnen das Rückgrat brechen.”
Wer sich als Deutscher vorbehaltlos hinter die Verbrechen israelischer Faschisten stellt, die Araber Tieren gleich stellen, eine ganze Bevölkerung schuldig sprechen und sie vernichten wollen, akzeptiert deren Ideologie. Dies steht im Widerspruch auch zu jeder bürgerlich-demokratischen Verfassung, ist aber die konseqente Fortsetzung eines europaischen Rassismus, dessen Antisemitismus sich heute nicht mehr gegen die semitischen Juden auszutoben wagt, wohl aber gegen die semitischen Araber.
Wenn das alles ist, was Leute vom Schlage eines Habeck, einer Baerbock oder eines Scholz aus dem Holocaust gelernt haben, dann ist es wertlos. Niemals kann das Bekenntnis zu einem Staat, der völkerrechtswidrig seit Jahrzehnten fremde Gebiete besetzt hält, “deutsche Staatsräson” sein.
Im Gleichschritt mit israelischen Besatzern, aber den Russen erklären, was ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg ist
Wenn man Presseberichten entnehmen kann, dass das US-Aussenministerium mit einer E-mail angewiesen hat, dass in der Öffentlichkeit Formulierungen wie “die Ruhe wiederherstellen”, “das Blutvergießen beenden” oder “Waffenruhe” zu vermeiden seien, dann fragt man sich, welche Anweisungen und Sprachverbote wohl Frau Baerbock ihren feministischen Aussenpolitikern auf den Weg gegeben hat, damit die Eintracht mit dem israelischen Regime nicht gestört wird.
Sollte unsere deutsche und europäische Antwort auf die eigene Geschichte nicht lauten, dass wir uns gegen jedwede Form von Rassismus und Faschismus wenden, unabhängig davon, welcher Herkunft die Faschisten sind? Haben wir wirklich nicht begriffen, dass Faschismus und Rassismus mehr ist als Antisemitismus? Glauben wir denn wirklich, dass ein israelischer, heute offenbar mehr denn je von militanten religiösen Fundamentalisten geprägter Kapitalismus nicht auch seine eigene faschistische Form autoritärer Herrschaft hervorbringen kann? Können wir wirklich glauben, dass die Militanz israelischer Siedler, die den Konflikt mit den Palastinensern verschärften und fortlaufend provozieren, , auf etwas anderem beruht als auf kolonialem Überlegenheitsdenken?
Sind wir berechtigt zuzulassen, dass die durch nichts zu relativierende Schande der in deutschem Namen begangenen Verbrechen lediglich benutzt wird, um eigene Verbrechen zu relativieren oder gar zu begründen?
Das Gefühl der Wut und Ohnmacht, das die Palästinenser in der Diaspora und auch viele Moslems befällt, birgt den Keim neuer sinnloser Gewalt und Vernichtung in sich.
Sie erleben darüber hinaus eine westliche Welt, die sich sehr weitgehend zum Komplizen schwerer Verbrechen macht. Es wird schwierig sein, die Beteiligung daran nicht als “Kollektivschuld” zu bewerten, wenn sich nicht wenigstens Teile dieses “Kollektivs” deutlich wahrnehmbar distanzieren.
Wir können heute dagegen etwas tun, indem wir von unseren eigenen Regierungen verlangen, dass sie eine andere Rolle einnehmen. Die bedingungslose Solidarität mit einem israelischen Regime, das das Andenken an den Holocaust für eigene Verbrechen mißbraucht, muß beendet werden.
Wer im deutschen Namen sprechen will, kann nur eine aufrichtige Vermittlerrolle in diesem Konflikt übernehmen
Wir haben eine Verantwortung nicht gegenüber faschistischen Israelis, sondern gegenüber den Nachfahren der Holocaustopfer und auch den Palästinensern, von denen wir wie selbstverständlich erwarteten, dass sie einen Teil ihrer Heimat mit den Opfern unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern teilen würden. Ja, sie waren auch deren Opfer, so weit unsere Vorfahren damaliges Unrecht durch Gleichgültigkeit oder sogar durch aktives Tun ermöglichten.
Das Wegsehen oder die stillschweigende Billigung der Verbrechen ununterbrochener Belagerung oder der jetzigen “kollektiven Bestrafung” durch Massenmord kommt der Wiederholung des Verhaltens nahe, das wir unseren eigenen Familien oft zum Vorwurf machen mussten.
Martin Leo, Jahrgang 1955 ist Politwissenschaftler, Autor und lebt in Lagos, Portugal. Er ist Aktivist und Mitgründer der Linken Deutschsprachigen Freunde Lagos LDFL.