
50 Jahre Nelkenrevolution ■ Die UHUDLA edition und LDFL startet eine „Jubiläumsartikel“ Serie und ein wissenschaftlich, historisches Buchprpojekt über „Die Auseinandersetzungen um die portugiesische Agrarreform 1976 bis 1985. Zur Restaurierung vorrevolutionärer Macht- und Eigentumsverhältnisse am Beispiel der Kooperativen der Agrarreformzone“. Teil XI
Von Martin Leo
4. Agrarreform unter Lopes Cardoso: Konsenssuche, Konflikte und Konsolidierung
4.1 Die Agrarreform und die Kleinbauern
Wenn es sich auch um oft „übertrieben dargestellte”1 Konflikte gehandelt haben mochte, so führten die Spannungen zwischen Landarbeitern und kleinen und mittleren Produzenten, die zum Teil schon 1974 während der „colocação”2 aufgetreten waren, doch insgesamt zu einer Schwächung des Rückhalts, auf den sich die Agrarreform in der Landbevölkerung stützen konnte.
Vom ländlichen Proletariat unterschieden sich die Kleinbauern der Latifundienzone vor allem durch ihr soziales und politisches Bewußtsein. Organisiertes und kollektives Handeln entsprach nicht ihren Existenz- und Produktionsbedingungen als Einzelbauern; Kampferfahrungen und Traditionen wie bei den Landarbeitern fehlten ihnen daher. Entsprechend ihrer bisherigen Rolle im ländlichen Produktionsprozess war ihr Bestreben zumeist auf Unabhängigkeit und individuelle Leitung eines eigenen Betriebs gerichtet.
Die Agrarreform, die von Beginn an auch zum Schutz der Interessen der Kleinbauern in und außerhalb der Region des Großgrundbesitzes aufgerufen hatte3, hatte in der Praxis im Süden diese Bauern weitgehend übergangen. Ihnen waren kaum Böden zugeteilt worden4 und es gab offenbar auch Anlass, vor übertriebener Eile in der Angleichung kleiner und mittlerer Bauern an das Landproletariat durch mehr oder weniger erzwungene Eingliederung in Kollektiveinheiten und vor Gewaltanwendung zu warnen.5
Nach Àlvaro Cunhal gab es auch nur wenige Fälle, in denen echte Bauernkooperativen auf enteignetem Land gegründet worden waren.6 Dass den Bauern nicht mehr Land zugeteilt wurde, war also durchaus mehr als nur „ein kleiner Fehler”7 der Agrarreform, denn die Marginalisierung der Kleineigentümer im Reformprozess weckte Ressentiments und schuf Unzufriedenheit, die einen Teil dieser Klasse in ein Bündnis mit den im CAP organisierten Latifundisten und Großbauern trieb.8
Das für die Agrarreform und den revolutionären Prozess von Kommunisten, linken Sozialisten und unabhängigen Linken als wichtig erkannte Klassenbündnis zwischen Kleineigentümern und Landarbeitern kam so nicht zustande, da an der Basis das „Grundproblem dieser Regionen: die Verwirklichung des Bündnisses im eigenen Sozialfeld, in dem man sich betätigt”9, nicht gelöst wurde.
Der Anfang Januar 1976 aus dem PCP-Lager gekommene Hinweis auf die Bereitschaft der Arbeiter, bei der Besetzung begangene Fehler zu korrigieren10, die Ratschläge António Bicas und Sérgio Vilarigues11, man solle die Bauern von der Gegenrevolution trennen, indem man ihnen Land zuteilte12 und die von Louro bereits konstatierten Fehlerkorrekturen13 dürften für eine grundlegende Wende im Verhältnis Agrarreform und Kleinbauern zu spät gekommen sein.
Es blieb konservativen Kräften vorbehalten, diese Situation später für sich zu nutzen
Nach Barros gab es seltene Fälle, in denen sich Kleinbauern an Besetzungen beteiligt hatten; in weniger seltenen Fällen hatten sie Besetzungen und Versammlungen unterstützt, aber nur gelegentlich erhielten sie selbst eigenes Land.14 Um so schwerer wog, dass es am Rande der Landbesetzungen 1975 auch zur Besetzung einiger kleiner Höfe gekommen war.
Während Barreto meint, die Zahl der von Besetzungen betroffenen Bauern habe vermutlich zwischen 600 und 1000 gelegen und die besetzte Fläche 25.000 bis 35.000 ha umfasst15, stützt sich Barros auf die Analyse einer Studienkommission des MAP, die von Dezember 1975 bis November 1976 die Probleme der Anwendung der Agrarreformgesetze untersuchte. Danach waren 21.000 ha besetzt worden, die Kleinbauern gehört hatten. Das entsprach 1,3% der nach dem Enteignungsgesetz zu enteignenden Fläche von 1,6 Millionen Hektar beziehungsweise 1,9% der besetzten Fläche.16 Diese Besetzungen waren nicht durch das Gesetz gedeckt. Sie waren oft im Zuge der Besetzung von Latifundien erfolgt, wenn sich in deren Mitte oder unmittelbaren Umgebung Felder von Kleinbauern befunden hatten. Von den im Distrikt Évora gezählten 250 Konfliktfällen mit Pächtern, Saisonpächtern und Kleinbauern wurden bis Mitte 1976 202 geklärt. 1978 waren noch 106 Fälle ungeklärt, in denen der Streit um 3336 ha geführt wurde.17
Obwohl also insgesamt nicht mehr als eine periphere Erscheinung eines revolutionären Prozesses, war der angerichtete politische und psychologische Schaden doch beträchtlich. Diese Feststellung gilt vielleicht noch mehr für die Kleinbauernmassen des Nordens, deren Lebensverhältnisse sich durch die Revolution nur wenig verändert hatten18 und die nun mit dem Beispiel „expropriierter Bauern” erschreckt wurden.
Landwirtschaftsminister Cardoso hatte versucht, die Kleinbauern, von denen einige in Orten des Zentrums und Nordens mit dem CAP, der PPD und dem CDS gegen die Agrarreform demonstriert hatten, mit Aufklärungsbroschüren darüber zu informieren, was die Agrarreform bedeutete.19 Kurzfristig konnten diese Bemühungen jedoch nicht zuletzt auch deswegen nur wenig bewirken, weil die in der „heißen” Phase der Revolution beschlossenen neuen Pachtgesetze, die den Kleinbauern und Pächtern des Nordens am besten hätten demonstrieren können, was Agrarreform bezweckte, nicht „griffen”, teilweise zurückgenommen worden waren oder ihre Anwendung von den Lokalgewalten hintertrieben wurde.20
Cardoso weigerte sich, die von ihm für notwendig erachteten Korrekturen auf einer anderen als auf der Grundlage des Dialogs und der Diskussion mit den Landarbeitern vorzunehmen; staatliche Autorität sollte nur im Notfall eingesetzt werden.21
Für den CAP und das CDS waren Besetzungen und Enteignungen grundsätzlich illegale Akte, die sich lediglich auf eine von den „am rechten Rand des portugiesischen Parteienspektrums”22 stehenden Zentrumsdemokraten niemals anerkannte revolutionäre Legitimität berufen konnten.
Der Empfang, den Ministerpräsident Azevedo dem CAP am 30. Januar 1976 gewährte, war ein Erfolg für diese Kräfte, erhielten sie doch die Zusage, dass auf weitere Enteignungen verzichtet werden sollte, solange nicht der Status des besetzten, aber noch nicht enteigneten Landes geklärt war.23
Die real existierenden Probleme wurden so ganz im Sinne des CAP, aber im Widerspruch zu ihrer wirklichen Dimension in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Nicht von Recht, sondern von Unrecht wurde im Zusammenhang mit der Agrarreform gesprochen; ihre Anhänger wurden in eine Defensivposition gebracht.
Es war ein wichtiger Schritt bei dem Versuch, die Agrarreform moralisch zu diskreditieren
Zugleich erschienen die Bemühungen begründet, den Reformprozess stärkerer staatlicher Kontrolle zu unterwerfen und ihn zu disziplinieren.
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[…] Agrarreform unter Lopes Cardoso: Konsenssuche, Konflikte und Konsolidierung 4.1 Die Agrarreform und die Kleinbauern Teil XI 4.2 Die Parteienplattform 1976 Teil XII 4.3 Konkurrenz und Gegenmodell: Cardosos „freie […]