Kapitalismus und Demokratie in der Krise

Haven
© Karl Berger

Ein sozialer Neubeginn – Alternative statt Weiterwursteln ■ Demokratie ist eine brauchbare Form gesellschaftlicher Organisation, wenn sie Prozesscharakter hat und nicht als Zustand des trotz aller Mängel besten Systems verstanden wird. Nach der Implosion des „Sozialismus“ jeder Systemkonkurrenz verlustig gegangen, ist dieses System rascher, als erwartet, in eine tiefe dauerhafte Krise geraten.

Von Lutz Holzinger, erschienen in der UHUDLA-Ausgabe 89/2009

Der neu gewählte österreichische Nationalrat hat sich beeilt, mit zwei einstimmig angenommen Beschlüssen Farbe zu bekennen: Erstens wurde die Erhöhung der Parlament-Klubförderung um 15 Prozent als fragwürdige Form der Eigenvorsorge ohne Diskussion angenommen. Zweitens wurde ein Bankenpaket im Wert von 100 Milliarden Euro ohne Gegenstimme als Kotau vor dem Finanzkapital abgesegnet.


Damit haben die Abgeordneten in aller Naivität bescheinigt, dass das Parlament in Österreich erstens für die in ihm vertretenen Parteien existiert und zweitens für das Finanzkapital sorgt. In der abgelaufenen Legislaturperiode ist es nicht gelungen, die überfällige, ohnehin nur notdürftig zusammengeschusterte Mindestsicherung zu beschließen.
Damit ist das Unbehagen gestärkt worden, das der repräsentativen Demokratie in Österreich entgegen schlägt. Es hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten entwickelt, in denen die Regierungen verschiedener Couleurs statt nachvollziehbaren Zielen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung,  abstrakte Vorhaben wie die Entschuldung des Staatshaushalts oder „Null-Defizite“ anvisiert haben. Begleitet wurde diese Politik von Sozialabbau und Reallohnstagnation.

Mit der schleichenden Produktion der Zwei-Drittel-Gesellschaft ist auf Dauer kein Staat zu machen.

Die demokratische Republik benötigt, wie die Geschichte der Demokratie zeigt, eine Res Publica, um zu funktionieren. Diese öffentliche Aufgabe hat nach der Gründung der Zweiten Republik im Wiederaufbau bestanden. Zu dem Zweck mussten die Kriegsfolgen einschließlich der Besatzung bewältigt, die Wirtschaft und die Infrastruktur rekonstruiert und die Gräben zwischen den beiden dominanten politischen Lagern überwunden werden.
Nach der Isolierung der KPÖ und Niederschlagung des Oktoberstreiks (1950) gelang dies in der ersten Ära der Großen Koalition zwischen 1948 und 1966 einigermaßen erfolgreich. Die dafür genutzten Instrumente wie Sozialpartnerschaft, Proporz und parteipolitische Durchdringung aller Gesellschaftssphären haben sich rasch abgenutzt. Sie wurden jedoch in der Periode der Alleinregierungen (der ÖVP und dann der SPÖ) sowie der Koalitionen danach mit wechselnder Zusammensetzung weiter beibehalten.
Beim texten der „Zeit im Bild-Analyse“ Anfang der 70-er Jahre suchten Michael Springer und ich nach einem brauchbaren Begriff für Meldungen, die damals wie heute laufend produziert werden und auf Äußerungen bzw. Aktivitäten politischer Akteure in Regierung, Nationalrat und Parteien beruhen, ohne einen Bezug zur Arbeits- und Lebenswirklichkeit der StaastbürgerInnen (LeserInnen, HörerInnen und SeherInnen) aufzuweisen. „Gerassel des formaldemokratischen Apparats“ schien am besten zu passen. Mit ORF-Reform 1967 und „Profil“-Gründung hatte dieses Getöse gerade erst richtig eingesetzt, das die Kluft zwischen Politikerkaste und Bevölkerung immer weiter vertieft.
Der Nachkriegskonsens, von dem es hieß, er sei auf den Lagerstraßen der KZ zu Stande gekommen, begann zu zerbröckeln, als es zur Überraschung aller Beteiligten mit Österreich in den 60-er Jahren wirtschaftlich relativ rasch aufwärts ging und von einer Normalisierung des politischen Klimas gesprochen werden konnte. Die Alleinregierung der ÖVP (1966 bis 1970) brachte ebenso wenig eine neue Ständestaatsdiktatur hervor, wie die Alleinregierung der SPÖ (1970 bis 1983) die Tore zum Sozialismus aufstieß.

Letzte große sozialpolitische Tat der beiden Großparteien bestand in der Einführung der 40 Stunde-Woche

Mit der Gründung der ÖIG (unter der Regierung Klaus) begann bereits der langsame und nachhaltige Prozess der Privatisierung der Verstaatlichten. Sie hatten bis dahin eine beachtliche Doppelfunktion eingenommen: Einerseits billiger Rohstoff- und Halbzeuglieferant für die private Finalindustrie; andererseits Schrittmacher für sozialpolitische Errungenschaften der Arbeiter und Angestellten. Das Bekenntnis der SPÖ zur Verstaatlichten war nicht ernst gemeint. Beispielsweise blieb die Edelstahlmilliarde beim Zusammenschluss der Edelstahlbetriebe von Kapfenberg, Mürzzuschlag, Judenburg und Ternitz zur VEW ein leeres Versprechen.
Bruno Kreisky war im Zuge der nachholenden Modernisierung des Landes und als Ergebnis des Strukturwandels vom Agrar- zum Industriestaat zur relativen und dann absoluten Mehrheit gekommen. Die Regierungstätigkeit erschöpfte sich schon damals, von einigen Modernisierungsakten im Straf- und Arbeitsrecht abgesehen, im Zusammenstellen immer neuer Belastungspakete. Sie sind keine neue Erfindung, sondern begleiten das Alltagsleben der Staatsbürger seit Jahrzehnten.
Konkret hält dieser Prozess seit Ende der 78-er Jahre an, als unter Alfred Dallinger als Sozialminister eine Pensionsreform beschlossen wurde, die Einsparungen von 400 Milliarden Schilling bringen sollte. Seither ist es üblich geworden, im Wahlkampf eine soziale Einstellung zu predigen und danach Sozialabbau zu praktizieren. Kein Wunder, dass die Zahl der StaatsbürgerInnen immer größer wird, die PolitikerInnen nicht mehr über den Weg trauen.
Der jüngste Wahlausgang mit dem Rückbau von SPÖ und ÖVP zu Mittelparteien, dem hohen Anteil von NichtwählerInnen und einem Drittel der Wählerstimmen für die beiden Rechtsaußenparteien FPÖund BZÖ ist ein Zeichen dafür, dass die WählerInnen bei diesem Spiel nicht mehr mitmachen, weil ihre sozialen Anliegen auf der politischen Ebene – von leeren Versprechen abgesehen – keine Rolle spielen.
Die kapitalistische Entwicklung im Zeichen des Neoliberalismus mit der Finanzmarktkrise ist in eine kritische Phase geraten. Traditionell wurden dem Staat als ideellen Gesamtkapitalisten in der Vergangenheit die Funktionen eines „Nachtwächters“ (Justiz, Polizei, Heer) und die Organisation der Infrastruktureinrichtungen (Bildung, Bahn, Post usw.) die zu wenig profitabel waren oder für die das Einzelkapital zu schwach war, zugewiesen.
Im Zusammenhang mit der Banken-Crashs als Folge der US-Immobilienkrise, machen die Regierungen der Industriestaaten hunderte Milliarden Euro und Dollar locker, um das Kreditsystem zu retten. Dabei ist irreführender Weise immer wider von Verstaatlichung die Rede. Tatsächlich nehmen die Geldinstitute den Staat in ihren Dienst. Trotz der Propaganda für die „Rettungspakte“ bleibt die Bevölkerung skeptisch und lehnt diese Schritte mehrheitlich ab, was nichts an der Vorgangsweise der Politiker ändert.
Politologen und Ideologen verschiedener politischer Zuordnung suchen nach technischen Lösungen, um der Krise der Demokratie und der absehbaren Unregierbarkeit des Landes zu begegnen. Dabei ist immer wieder von der Einführung eines Mehrheitswahlrechts nach dem Prinzip „Der Sieger nimmt alles!“ die Rede. Bei der derzeitigen Erosion des traditionellen Parteienspektrums ist es mehr als fraglich, ob – neben allen grundsätzlichen Bedenken gegen diese Vorgangsweise – eine brauchbare Alternative überhaupt zu Stande kommen könnte. Zweckmäßiger wäre es, über ein System nachzudenken, in dem die Anliegen der StaatsbürgerInnen unmittelbarer zum Tragen kommen und die herkömmlichen politischen Parteien nicht mehr als ausschließliche Transmissionsriemen fungieren.
Fällig ist eine Weiterentwicklung der Demokratie von der bloß repräsentativen Vertretung der Bevölkerung durch politische Parteien im Verhältnis ihres Stimmenanteils zu einer projektorientierten Mitwirkung an der Beschlussfassung der gesetzlichen Grundlagen, die von der Exekutive (sprich: Regierung, Landesregierung, Stadtsenat- und Bürgermeister) auszuführen sind (und nicht wie bisher weitgehend entwickelt werden).

Die Zeit ist reif für eine erfolgreiche  Gegenbewegung die mehr soziale Gerechtigkeit durchsetzen kann

Denkbar wäre die Bildung wesentlich kleinerer Wahlkreise und die Kandidatur von markanten Persönlichkeiten, die explizite Anliegen vertreten und dem Programm von NGOs wie Amnesty, Attack, Global 2000 usw. usf. verpflichtet sind.
Der Neoliberalismus, der mit den Säulen Liberalisierung, Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung in den letzten 30 Jahren soziale Unsicherheit verbreitet hat, erleidet mit der aktuellen Krise der Finanzmärkte eine strategische Niederlage. Der aus dem Iran stammende deutsche Politologie Moshen Massrat hält die Zeit gekommen „für eine Gegenbewegung zur fairen Teilung der Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung, zu einem Existenz sichernden Einkommen ohne entwürdigende Kontrollen und zu einem gesetzlichen Mindestlohn“ (siehe: „Freitag“ Nr. 44/2008 deutsche Wochenzeitung).
Richtig verstanden, handelt es sich dabei um ein kleines, feines Programm für einen sozialen Neubeginn. Diese öffentliche Aufgabe geht alle StaatsbürgerInnen an und scheint geeignet zu sein, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu bilden, der erforderlich ist, um das Staatswesen weiter zu entwickeln. Alles in allem eine Basis, um die herum eine Demokratie der Zukunft konstituiert werden könnte.

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