In Baum-Geschnitzte Träume

Wald
© Fred Misik

Fred Misiks Border Lines ■ Die in Baumstämme geritzten Träume der Grenzpolizisten hat der im steirischen Burgau lebende Künstler und Sammler entdeckt, fotografiert und bearbeitet. Schnitzereien, die Grenzpolizisten an der österreichisch ungarischen Trennlinie zu Rattersdorf – im Köszeger Wald – in Bäumen hinterließen.
Manche der Bäume wurden so zu wahren organischen Gesamtkunstwerken, andere zu Projektionsflächen der Wünsche, Gedanken und Sehnsüchte der dort stationierten Grenzwache.

Erscheint in der elektronischen UHUDLA Ausgabe 113 E1 / 2020

Die Träume des Grenzpolizisten –
Der verzauberte Wald von Kőszeg

Essayistischer Text von Éva Kovács

Wenn man Ungarn bei Kőszeg verlässt, kommt man ins mittelburgenländische Rattersdorf (Rőtfalva). Ein auf Stelzen stehender, trauriger Wachturm bewacht die verlassene, nun zum dezenten sozialistischen Realismus gezähmte und mit Mosaiken belegte Grenzübergangsstation.
Oft überqueren Ungarn und Österreicher die Grenze hier, denn in Wahrheit existiert sie gar nicht mehr, sie ist ein leichtes Hindernis, wo man lediglich ein bisschen langsamer fahren muss. Die Grenzstation ist das meist abgenutzte Gebäude im ganzen Umkreis: sowohl im Westen, als auch im Osten empfängt uns eine niedlichere Welt.

Es ist ein Niemandsland, es ist der dagelassene Dreck des verschollenen Sozialismus

Ungarn umringt Rattersdorf – in der Zeit des Eisernen Vorhangs hätte man sagen können, dass Ungarn Rattersdorf sogar erwürgen will. Nach den von Trianon festgelegten Grenzziehungen kam dieses Dorf nach Österreich, die Ausläufer der benachbarten Wälder und Hügel blieben aber ungarisches Territorium. Aus dem Rattersdorfer Winkel führte der einzige freie Ausgang jahrzehntelang über das benachbarte Dorf Liebing.

So lang das Auge reicht, war es ein vermintes, später mit einer „elektronischen Alarmanlage“ geschütztes Grenzgebiet. Ein wunderschöner – aber bis 1989 ein unzugänglicher Wald. Nur ungarische Grenzpolizisten durften den Wald betreten und auch nur während des Dienstes. Die Grenzwache dürfte unendlich langweilig sein – viel länger und langweiliger, als eine kommunistische Weltsicht-Stunde in der Schule. Und wie die Zeit in der Schule unter anderem mit dem Beschmieren und Gravieren der Bänke vertrieben wird – hat jemand schon eine Schulbank ohne ein eingraviertes durchstochenes Herz gesehen? – so duldeten die metallgrauen, glattstämmigen Buchen des Kőszeger Mischlaubwaldes die uralte, zum Vertrieb der Langeweile gedachte, Kreativität.

„Imre Márkus 2.II.1958”, „Fodor M. Ják”, „Évike”, „Troty (sic!) Pastor”, „Katinka, ich liebe dich!”, „Antal Borbolya, 1957-1959”, József Fejes 1970-73, Keszthely”, „der Pimmel von Lajos Nagy”, „324, 321, 309, 297, 271, 200, 156, 103…“ – und noch mehr in hunderten, tausenden Bäumen eingravierte Botschaften.

Auf dem ersten Blick fallen diese Botschaften gar nicht auf, es scheint, als ob man in einem normalen Wald spazieren würde. Dann, als man die erste Gravierung bemerkt, sucht das Auge schon die zweite, dann die dritte und auf einmal beginnt die bisher unbewegliche Landschaft zu pulsieren und die grauen Stämme ziehen einen magnetisch an: Lies mich vor, entziffere mich auch! Während das in die leblose Schulbank eingravierte durchgestochene Herz in seiner Originalgröße für die Nachwelt erhalten bleibt, wachsen-schwellen die, in lebendige Bäume eingekerbten Zeichen, über die Jahrzehnte mit dem Baum mit:

„Svejk, der Schwule“ schwellt an, „Ich liebe dich, Mari“ geht auf, und mit ihr auch Mari selbst, in die Bernát gerade von hinten eindringt. Das am 15. August 1960 entstandene Werk trägt den Namen „Die Träume des Grenzpolizisten“ und hat schon ursprünglich den ganzen Baumstamm umschlungen. Nun, 50 Jahre später, sind die Gravierungen um einen Finger lang dicker geworden, das Stillleben wird erst sichtbar, wenn man eine Runde um den Baumstamm dreht.

Aus einer bestimmten Perspektive erinnert die Komposition sogar mehr an einem Miró-Abstrakt

Die natürlichen Wunden des Baumes verschmelzen sich mit den verursachten und es ist nicht mehr klar – vielleicht war es auch nie – ob Maris Augen, oder Bernáts Pimmel tränt. Die Tropfen laufen am Baumstamm bis zum Boden hinunter und bilden dort ein Herzchen. Aus der kindisch-schulischen und obszönen Szene wird ein zu entzifferndes Rätsel, ein Zauber sogar.

Abstreiten kann man es wirklich nicht, dass die Mehrheit der Schnitzereien auf das Thema der Sexualität abzielt – aber auf was sonst in einer geschlossenen Männergesellschaft? Der Miró-ähnliche Abstrakt ist ein selten schönes Exemplar, aber nicht das einzige: die verschiedensten Stile wurden in diesem Wald ausgelebt.

Der haarige Rhombus plus die harte Nudel plus das Blatt sind die Klassiker, aber nicht selten ist der weibliche Akt, welcher an ägyptische Hieroglyphen erinnert. Der Macher von „Katinka, ich liebe dich“ ist ein geborener Karikaturist: Katinkas Frisur ist aus den 60ern, ihre Möpse stehen bis heute keck aufrecht in den Himmel, ihre Hand ruht auf ihrer Hüfte, die sie ein bisschen ausstreckt, ihre Beine sind wie die Flossen einer Meerjungfrau, sie ist eine kesse Nixe. Ein wahres Kunstwerk.

Natürlich gibt es auch welche, die mehr den Wesenskern aufzeigen: den Darstellern der erotischen Szene fehlen die Arme – wahrscheinlich waren sie für den Akt nicht so dringend notwendig, oder der Dienst ging einfach zu Ende. Andere Torsos, die ebenfalls aus anderen Gründen unbeendet blieben: möglicherweise wurde der weibliche Körper beim nächsten Versuch schöner, womöglich wurde der Grenzpolizist von einem Alarm aus seiner Träumerei aufgeweckt. Und selbstverständlich gibt es auch schamhaftere Künstler, die den Mädels Höschen, den Jungen Kapperl anziehen oder eine qualmende Pfeife rauchen ließen.

Der ganze Wald ist schwül von Erotik. Aber auch harte Qual. Das andere große Thema ist die Zeit: Die unendlich schrecklich lange Zeit des Militärdienstes. Drei Jahre, dann zwei Jahre, später ganz viel Rückwärtszählen, die Zahl der Tage wird langsam, aber doch immer weniger. In manche Baumstämme ist der Stacheldraht eingewachsen.

FredAbbilder einer untergegangenen, toten Welt

Fred Misik, ein in Wien und Rattersdorf lebender Künstler, Bauer und Sammler bewirtschaftet seit einigen Jahren den Garten seiner Großeltern. Bei einem Spaziergang im Rattersdorfer Wald, befand er sich plötzlich auf der Kőszeger Seite und entdeckte die Bäume. Obwohl er kein Ungarisch spricht, kennt er die Geschichte der Grenze und die eingravierten Figuren,
Worte, Texte und Zeichnungen verzauberten ihn. Er begann eine fiebrige Dokumentationsarbeit, er fotografierte Tausende Bäume. Neben der Fotografie entwickelte er neue Methoden um die, in die Bäume geschnitzte Vergangenheit zu verewigen.
Er nimmt ein großes Blatt Papier, klebt es an den Baumstamm über die Eingravierung und wischt mit einem in Farbe getunkten Schwamm drüber. Oder er streicht eine große, nasse Tonplatte darüber, transportiert sie nach Hause, und gießt sie mit Gips aus. Er fabriziert die Todesmasken der Bäume – aber diesen, wie den „Veronikas Tuch“-Vergleich, füge bloß ich hinzu.
Fred Misik würde sich nie im Leben in kunsthistorische oder geschichtliche Deutungen verwickeln – die Bäume liebkosend, rettet er „nur“ die Vergangenheit. Auf den aufgehängten Umhängen, Masken sieht man die Eingravierungen so, wie man sie in echt nicht sehen könnte, sie sind Abbilder einer untergegangenen, toten Welt.
Eine eigenartige Wendung des Schicksals, dass ein österreichischer Künstler den verzauberten Wald von Kőszeg gefunden hat. Eigenartig, aber nicht einmalig, dass ein Österreicher die beschwerliche ungarische Erinnerung an den Eisernen Vorhang pflegt – schon das Jubiläum im Jahr 2006 hat man in Österreich würdevoller gefeiert als bei uns, in Ungarn…
Währenddessen wird der Wald, auf der ungarischen Seite des österreichisch-ungarischen Írottkő Naturparks, der zum Kőszeger Naturschutzgebiet gehört, abgeholzt. Bei meinem letzten Besuch landeten wir bei einer solchen Rodung, wo mehrere Dutzend Bäume schon gefällt wurden, auf den Stämmen sah man aber noch, dass viele von ihnen „beschrieben“ waren.
Der verzauberte Wald von Kőszeg – der sogar kulturelles Erbe, sogar ein Schulausflugsort für eine Geschichtsstunde über das 20. Jahrhundert sein könnte, wird möglicherweise in ein paar Jahren vernichtet sein, obwohl wir, Ungarn, ihn noch gar nicht entdeckt hatten.
Sehr schade.

Kommentar verfassen