Die Augen nicht vor der Realität verschließen


Jose Saramago
■ Vor 25 Jahren am 8. Oktober 1998 erhält José Saramago den Nobelpreis für Literatur.

Henrietta Bilawer über den portugiesischen Schriftsteller auf ihrer FB-Seite-

Es war Buchmesse in Frankfurt, als heute vor 25 Jahren das Nobelpreiskomitee die Zueignung der höchsten Weihe für einen Literaten bekann gab. José Saramago hatte die Messe besucht, aber es hieß, er sei bereits zurück nach Portugal geflogen.Tatsächlich saß er am Frankfurter Flughafen und wartete auf seine Maschine.

Eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft informierte den Passagier, der später erzählte, er habe seine Reisepläne nicht davon abhängig machen wollen, ob er den Preis bekomme oder nicht – schließlich war er damals bereits mehrfach für den Preis im Gespräch. Ein Journalist zitierte Saramagos Worte an jenem Tag:

„Stellen Sie sich vor, ich hätte eine spätere Maschine gebucht und den Preis nicht bekommen. Da wäre ich mir blöd vorgekommen!“

Die portugiesische Literaturwelt durfte sich in der damals 87-jährigen Geschichte der Nobelpreise für Literatur zum ersten Mal über diese Auszeichnung freuen – und es blieb bis heute der einzige Literatur-Nobelpreis für einen portugiesischsprachigen Autor. Kritiker warfen Saramago oft vor, er zeichne ein düsteres Weltbild, worauf er antwortete: „Ich bin kein Pessimist, sondern bloß ein gut informierter Optimist.“

Seine Bücher beschwören die Hoffnung auf den neuen, besseren Menschen und beklagen zugleich die Vergeblichkeit dieser Hoffnung – was dem bekanntesten Kommunisten Portugals regelmäßig Rügen von seinen Genossen, aber 1998 eben auch den Nobelpreis brachte, den er kurz nach Erscheinen seiner Endzeitparabel ‘Die Stadt der Blindenʼ erhielt.

Saramagos Werke sind vor Jahrzehnten entstanden, doch liest man sie heute, sind sie von ihrer Thematik her höchst aktuell. Vermutlich auch deshalb, weil sein Schreiben seiner politisch-gesellschaftlichen Haltung entsprach, mithin ehrlich, direkt und unverstellt ist:

“Für erreichbare Ziele setze ich mich ein, für Illusionen nicht”, sagte Saramago 2008 in einem Interview mit der Hamburger Wochenzeitung ‘Zeit’. Sein Einsatz erfolgte mit den Mitteln eines Autors. Und Saramago kannte auch das Dilemma, erreichbare Ziele bis zu deren Durchsetzung zu verfolgen. Er hatte erkannt: Es ist leichter, gegen etwas zu kämpfen, als aus einem Sieg etwas zu machen.

Saramago wurde 1922 in Azinhaga bei Lissabon als Sohn eines Landarbeiters und späteren Polizisten geboren. Nach dem vorzeitigen Schulabgang wurde er Maschinenschlosser, arbeitete später als technischer Zeichner, Angestellter in der Sozialbehörde, in einem Verlag und als Journalist. Erst mit etwa 40 Jahren fand er zur Schriftstellerei; sein Stil zeichnet sich durch eine bildhafte, beinahe barocke Sprache und gelegentlich durch einen eigenwilligen Satzbau aus.

1992 zog Saramago mit seiner spanischen Frau Pilar del Rio auf die spanische Insel Lazarote, nachdem er mit seinem Buch ‘Das Evangelium nach Jesus Christusʼ von Konservativen in Portugal nicht nur hart wegen angeblicher Verletzung religiöser Gefühle kritisiert, sondern auf Betreiben des damaligen Kultur-Staatssekretärs Pedro Santana Lopes auch von der Vorschlagsliste für den Europäischen Buchpreis gestrichen worden war.

Saramago betonte jedoch immer, es habe “kein Zerwürfnis mit Portugal gegeben, nur ein Problem mit einer bestimmten Regierung. Es war wie mit unangenehmen Nachbarn, derentwegen man in eine andere Wohnung zieht.” Er behielt ein Haus in Lissabon und wies darauf hin, dass er auch seine Steuern hier zahlte.

Von Saramago sind rund vierzig Werke publiziert, die nicht alle ins Deutsche übersetzt wurden, aber selbst, wenn man die Liste der Übersetzung abarbeiten würde, wäre dies eine unübersichtliche Angelegenheit. Nennen möchte ich exemplarisch “Die Stadt der Blinden“, oft als Endzeitparabel bezeichnet. Schlagworte sind eben sehr beliebt, um in aller Kürze Aufmerksamkeit zu erzielen. Das Werk handelt von einer nicht aufzuhaltenden Epidemie der Blindheit und von der Unfähigkeit der Opfer, einander beizustehen. Abgeschoben in eine verlassene Irrenanstalt, bilden sie eine Notgemeinschaft, in der bald der Mensch dem Menschen ein Wolf wird, sich jeder selbst der nächste ist und sich selbst in dieser für jeden Einzelnen und für alle zusammen ausweglosen Lage ungnädige, rücksichtslose Hierarchien bilden.

Einzig eine Frau erblindet nicht und sieht den Horror. Das ist eine schwere Bürde, aber auch die Chance auf Rettung

‘Die Stadt der Blindenʼ ist zweifellos ungebrochen aktuell. Sehenden Auges sind wir Blinde. Das zeigt auch eine weitere Erzählung mit dem deutschen Titel ‘Das Zentrumʼ (A Caverna, erschienen 2000): Der Leser erlebt eine Konsumdiktatur, an der vor allem die kleinen Leute zugrunde gehen. Die Hauptfigur, ein alter Töpfer, kann seine Waren nicht mehr verkaufen und muss das Haus seiner Ahnen verlassen. Er wird in ein riesiges Einkaufszentrum vertrieben, ein künstliches Paradies voller Geschäfte, Kasinos und künstlicher Erlebniswelten, dessen Fenster man nicht öffnen kann. Auch gibt es in dem Konsumtempel Wohnungen, eine Krankenstation und anderes, sodass die Handelnden ihr gesamtes Leben dort verbringen können, bis zum gleichfalls gut organisierten Auszug nach dem Ableben.
Saramago selbst sagte dazu:

“Die Menschen schaffen sich einen sauberen Tempel im Dreck der Moderne. Sie leben in einem Kokon, der sie gegen die Wirklichkeit abschirmt, gegen die Folgen ihrer Gier und ihrer Selbstsucht. Schauen Sie sich die tristen Agrar-Gürtel an, die Westeuropas Großstädte umschließen, und mitten auf dem Feld plötzlich diese strahlenden Kaufhäuser. Warum schaffen sich Menschen freiwillig so eine Welt? Ich wollte zeigen, dass unsere Freiheit darin besteht, uns zum Guten oder zum Bösen zu entscheiden, aber wir immer wieder das Böse wählen und uns einreden, es wäre das Gute. Wir bleiben blinde Betrüger unserer selbst wie in Platons Höhlengleichnis”; Letzteres spielt eine zentrale Rolle in der Erzählung. Ein sehr personenreicher, bildhafter und ereignisreicher Roman.

Bemerkenswert ist auch die 1989 erschienene “Geschichte der Belagerung von Lissabon”. Hier verknüpft Saramago eine Liebesgeschichte mit der unglaublichen Tat eines Korrektors, der in einem Geschichtsbuch das Wort „nein“ einfügt und damit die gesamte Historie neu schreibt, denn plötzlich helfen die Kreuzritter nicht mehr bei der Befreiung Lissabons von den Mauren.

“Hoffnung im Alentejo”. Das Buch ist in Portugals ärmster Region angesiedelt, erzählt von Latifundien und den Menschen dort, deren Schicksal dem von Leibeigenen nicht unähnlich ist. Zentrale Figur ist der Tagelöhner João Mau-Tempo, doch, fünf Jahre nach der Nelkenrevolution von 1974 geschrieben, ist das Werk, das Saramago wegen seiner realen Bezüge selbst als „Bericht“ bezeichnet, eigentlich seine Frage an die Gesellschaft, warum die Nelkenrevolution gescheitert sei. Der Schriftsteller sagte dazu: “Eine Revolution ist zunächst mal ein Nein, das den bestehenden Verhältnissen gilt. Aus dem Nein kann schnell wieder ein Ja werden, wenn der neue Staat schlecht funktioniert. Die Nelkenrevolution erstarrte in Bürokratie, die neuen Mächtigen vergaßen ihre Ideale.”

Literatur umfasst Welten. Und “Ohne Übersetzer gäbe es keine Weltliteratur”, hat Jose Saramago einst gesagt. Ihnen sei Dank, dass Saramagos Werke auch der- und diejenige lesen kann, die des Portugiesischen nicht mächtig ist. Das gilt auch für Saramagos weltweit bekanntestes Werk:

‘Das Memorial’, in dessen Mittelpunkt das Geschehen um den Bau des mittelalterlichen Klosters Mafra steht, welches mit dem Gold aus der Kolonie Brasilien finanziert wurde. Die epische Geschichte um die Figuren Blimunda und Baltasar, um den Traum vom Fliegen des Jesuitenpaters und Erfinders Bartolomeu de Gusmão und um vieles mehr gibt einen tiefen analytischen Einblick in die Landesgeschichte und das soziale Gefüge. Saramagos Schreibstil ist hier besonders eigenwillig, was aber den (wie ich finde) positiven Nebeneffekt hat, dass dieses Buch mit großer Konzentration gelesen wird und somit umso nachhaltiger auf den Leser wirkt.

Eine andere, noch immer wenig bekannte, aber äußerst empfehlenswerte Lektüre ist Saramagos frühes Werk, das den Titel “Claraboia” trägt (in der dt. Ausgabe mit dem sehr gut gewählten Untertitel “Wo das Licht einfällt”). Der Roman ist in den frühen 1950er Jahren entstanden, wurde aber erst posthum veröffentlicht. Als Saramago es geschrieben hatte, ignorierte es der Verleger (zweifellos, weil es der in der Zeit Salazars gewünschten Darstellung vom Leben in der Familie und in der Nachbarschaft nicht entsprach).

Das Buch versetzt den Leser sieben Jahrzehnte zurück mitten ins Leben von sechs Nachbars-Familien in Lissabon, in die Enge des städtischen Kleinbürgertums mit ihren persönlichen Freuden und Dramen, materiellen und moralischen Defiziten. Die zentrale Figur ist ein Untermieter, der Saramagos Frage verkörpert, ob man sich aus dem Leben in seinem direkten Umfeld heraushalten soll oder ob man die Pflicht hat, sich einzubringen, gar einzugreifen.

Übrigens hatte der Literaturnonelpreisträger Jose Saramago auch eine Beziehung zur deutschsprachigen Welt

1955 übersetzte er Erich Maria Remarque ins Portugiesische und ein Jahr danach die 08/15 Trilogie von Hans Hellmut Kirst, wenngleich auf dem Umweg über die französische Ausgabe. Später finden sich in seinem Werk immer wieder Figuren mit deutschem Bezug – zum Beispiel die deutschen Latifundien-Besitzer im gerade erwähnten Buch „Hoffnung im Alentejo“. Und im „Todesjahr des Ricardo Reis“ gibt es einige Dialogsequenzen auf Deutsch – in lautlicher Umschrift ins Portugiesische.
Am 18. Juni 2010 ist Saramago 87-jährig an seinem Wohnsitz auf der spanischen Insel Lanzarote gestorben. Er hinterließ zeitlose Erkenntnisse: “Niemand ist blinder als ein Visionär, der die Augen vor der Realität verschließt.”

Dieser Text ist Teil eines Manuskripts von Henrietta Bilawer für einen Vortrag am 16.November 2022 auf einen Kultur-Symposion in Hamburg anlässlich des 100.Geburtstags von José Saramago.

Bildquelle oben: Das Portraitfoto hat die ‘Fundação José Saramago’ freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Das Bild der Ehepaares hat Saramago selbst aufgenommen.

Henrietta Bilawer, geboren in Köln BRD. Die Autorin und Journalistin lebt seit 1994 in Portugal.

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